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Frankfurt, April 2010
Erleichtert stellte Lisa die schwere Tasche mit der Fotoausrüstung ab, zog den Rollkoffer zu sich heran und schloss die Tür ihres kleinen Apartments auf, das sie im vierten Stock eines Mietshauses in einer ruhigen Straße hinter der Alten Oper bewohnte. Noch bevor sie ihre Jacke auszog, eilte sie in das großzügig geschnittene Wohnzimmer und öffnete die Tür zu dem winzigen Balkon, um frische Luft hereinzulassen. Sie trat hinaus und schaute in den Innenhof. Eine einsame Birke stand dort, an deren Ästen sich ein erstes helles Grün zeigte. Eine Amsel saß auf der Dachrinne des gegenüberliegenden Hauses und sang ihr melodisches Lied in die Abenddämmerung. Endlich Frühling! Lisa lächelte, schloss die Augen und atmete die kühle Luft in tiefen Zügen ein.
Wie fern erschien ihr jetzt Mumbai mit seiner schwülen Hitze, in der sie keine vierundzwanzig Stunden vorher noch geschmort hatte. Im Auftrag eines Forschungsinstituts für Städteplanung hatte sie in Dharavi, einem riesigen, mitten in der Stadt gelegenen Slum, eine Art fotografische Bestandsaufnahme gemacht. Denn das unübersichtliche Meer aus Wellblechhütten, Töpfereien und anderen Handwerksbetrieben, Geschäften und Bordellen sollte demnächst einem modernen Viertel mit Büro- und Wohntürmen weichen und als Vorbild für andere Slumsanierungen dienen. Ein Vorhaben, das bei den Betroffenen gemischte Gefühle hervorrief, wie Lisa schnell festgestellt hatte. Zwar sollten die Bewohner in günstige Wohnungen umgesiedelt werden, doch vor allem die Handwerker fürchteten, dass sie dort ihrer Arbeit nicht länger nachgehen könnten.
Lisa war in diese faszinierende Welt eingetaucht und mit einer reichen Ausbeute an Fotos und neuen Erfahrungen zurückgekehrt. Viel Zeit, das alles zu verdauen, blieb ihr nicht. In ein paar Tagen bereits würde sie wieder unterwegs sein, diesmal nach Dubai, wo sie in den letzten Jahren regelmäßig die Entwicklung der gigantischen Bauvorhaben mit der Kamera festhielt.
Es schellte drei Mal – das Zeichen für Susanne. Lisa ging zurück in die Wohnung und öffnete die Tür.
Ihre Nachbarin und Freundin Susanne begrüßte sie mit einem strahlenden Lächeln. Sie war fast einen Kopf kleiner als Lisa und sehr zierlich. Ihre mahagonifarbenen langen Haare, die das herzförmige Gesicht mit dem hellen Teint umschmeichelten, die lang bewimperten braunen Augen und die kirschroten Lippen ließen Lisa an Schneewittchen denken. So jedenfalls hatte sie sich die Märchengestalt als Kind vorgestellt.
An diesem Tag trug Susanne ein burgunderrotes Kleid aus einem fließenden Stoff, der ihre weiblichen Formen zur Geltung brachte. Neben ihr kam sich Lisa immer besonders schlaksig vor. Was nicht nur an ihrer Größe lag, sondern auch an ihrer legeren, sportlichen Kleidung, die ihre schlanke Figur eher verbarg als betonte.
Wegen ihres mädchenhaften Aussehens wurde Susanne von Männern häufig für ein zartes, hilfloses Wesen gehalten – ein Irrtum, den sie mit diebischer Freude auszunutzen wusste. Lisa dagegen behandelten die meisten auf eine freundliche, kumpelhafte Art. Das war ihr eigentlich sehr angenehm, doch manchmal, wenn sie mit Susanne unterwegs war, gab es ihr schon einen Stich, dass sich alle Blicke wie ferngesteuert auf ihre Freundin richteten, während sie plötzlich das Gefühl hatte, unsichtbar zu sein. Auf die Idee, sich deswegen ernsthaft zu grämen oder gar ihr Äußeres zu verändern, wäre sie allerdings nie gekommen.
Kurz nachdem sie vor fünf Jahren hier eingezogen war, hatte sie sich mit Susanne, die auf dem gleichen Stock wohnte, angefreundet. Die beiden jungen Frauen waren sich auf Anhieb sympathisch gewesen, obwohl oder gerade weil sie so unterschiedlich waren. Von da an sammelte Susanne ihre Post, wenn Lisa verreist war. Diese revanchierte sich, indem sie Susannes Katzensammlung bereicherte und ihr von jedem Ort Katzenfiguren und -darstellungen aus allen nur erdenklichen Materialien mitbrachte. Diesmal hatte sie eine kleine rote Lederhandtasche mit Katzenmotiv im Gepäck.
Susanne hielt in der einen Hand einen Stapel Briefe, in der anderen einen riesigen Strauß gelber Teerosen, deren intensiver Duft Lisa entgegenwehte. Überrascht fuhr sie sich durch die widerspenstigen, kurzen dunkelblonden Locken und lächelte die Freundin an.
»Nein, nein, die sind nicht von mir«, sagte Susanne. »Sie sind vorhin für dich abgegeben worden. Hier ist ein Kärtchen.« Mit dem