: Klaus Günther, Daniel Thym, Uwe Volkmann
: Zusammenhalt durch Recht?
: Campus Verlag
: 9783593455723
: Gesellschaftlicher Zusammenhalt
: 1
: CHF 27.20
:
: Öffentliches Recht, Verwaltungs-, Verfassungsprozessrecht
: German
: 184
: Wasserzeichen
: PC/MAC/eReader/Tablet
: ePUB
Inwiefern kann das Recht sozialen Zusammenhalt stärken? Einerseits wird ihm traditionell eine Ordnungs- und damit zugleich eine Befriedungsfunktion zugeschrieben, ohne die eine komplexe Gesellschaft nicht existieren kann. Andererseits organisiert es diese Gesellschaft zunächst nur als ein Nebeneinander von Rechtspersonen, wodurch nicht notwendig ein Miteinander von Bürger:innen entsteht. Ausgehend von dieser Analyse gehen die Beiträge des Bandes der Frage nach, welche weiteren Leistungen das Recht für sozialen Zusammenhalt erbringen kann, welche Grenzen ihm dabei gesetzt sind und welche Folgeprobleme hieraus entstehen.

Klaus Günther ist Professor für Rechtstheorie, Strafrecht und Strafprozessrecht am Institut für Kriminalwissenschaften und Rechtsphilosophie im Fachbereich Rechtswissenschaft der Goethe-Universität Frankfurt. Außerdem ist er Projektleiter am Forschungsinstitut Gesellschaftlicher Zusammenhalt, Mitglied im Kollegium des Instituts für Sozialforschung sowie Principal Investigator am Forschungszentrum »Normative Ordnungen« an der Goethe-Universität Frankfurt. Daniel Thym ist Professor für Öffentliches Recht, Europa- und Völkerrecht an der Universität Konstanz und Direktor des dortigen Forschungszentrums Ausländer- und Asylrecht (FZAA). Außerdem ist er Sprecher des Forschungsinstituts Gesellschaftlicher Zusammenhalt (FGZ) am Standort Konstanz und Vorstandsmitglied des Konstanzer »Zentrums für Kulturwissenschaftliche Forschung«. Uwe Volkmann ist Inhaber Professor für Öffentliches Recht und Rechtsphilosophie an der Goethe-Universität Frankfurt. Zu seinen Forschungsschwerpunkten gehören Verfassungs- und Demokratietheorie, die Zuordnung von Individuum und Gemeinschaft, Fragen der Grundrechte sowie das Recht der Inneren Sicherheit.

Kein gesellschaftlicher Zusammenhalt ohne Recht – kein Recht ohne gesellschaftlichen Zusammenhalt? – Re-Konstruktionen zwischen Menschenrechten und nationalstaatlicher Verfassung1


Klaus Günther

Abstract


Wenn es um die Bedeutung des Rechts für den gesellschaftlichen Zusammenhalt geht, werden üblicherweise zwei gegensätzliche Positionen, wenn auch zumeist in mehr oder weniger vermischter Form, vertreten: Für die einen gibt es keinen Zusammenhalt ohne Recht; dieses, vor allem die Verfassung, verbindet die Individuen erst zur Gesellschaft. Für die anderen ist das Recht in seiner Geltung und Wirksamkeit auf einen vorgängigen gesellschaftlichen Zusammenhalt angewiesen. Der Beitrag skizziert die historischen Grundlagen dieser beiden Positionen und ihrer wechselseitigen Kritik, um dann zu zeigen, dass es sich um eine falsche Alternative handelt. Mit der seit 1789 explizit gesetzten Zweckbestimmung jeder politischen Assoziation, die Menschenrechte für eine bestimmte Gesellschaft unter ihren spezifischen Lebensbedingungen zu garantieren, wird eine rechtliche und gesellschaftliche Veränderungsdynamik ausgelöst. In dem Maße, wie sie von den Beteiligten und nachfolgenden Generationen als eine gemeinsam geteilte Geschichte erfahren wird, kann sie integrative Wirkung entfalten.

Keywords: Menschenrechte; Verfassung; Nation; Konflikt; Geschichte

Kaum jemand dürfte bestreiten, dass das Recht zumindest ein, wenn nicht gar der wesentliche Faktor gesellschaftlichen Zusammenhalts ist, weitgehend unabhängig davon, was man im Einzelnen unter diesem vieldeutigen Begriff versteht.2 Von dieser Überzeugung waren unter anderem die Anfänge der Soziologie als Wissenschaft geleitet, für die das Recht eine zentrale Rolle bei der Beantwortung der Frage spielte, wie Gesellschaft überhaupt möglich sei.3 Auch gesellschaftliche Modernisierungsprozesse, die rasch zu einem der Hauptthemen der Soziologie gerieten, wurden häufig an einem Wandel des Rechts dechiffriert. Exemplarisch lässt sich das an Emile Durkheims Werk »Über soziale Arbeitsteilung« zeigen, in dem der Übergang von mechanischer zu organischer Solidarität sich primär an dem Wechsel von der gesellschaftlichen Vorherrschaft des Strafrechts zum zivilen Vertragsrecht manifestiert. Max Weber wiederum setzt in seinen Studien zu »Wirtschaft und Gesellschaft« rationale Herrschaft als höchste Entwicklungsstufe des okzidentalen Rationalismus gleich mit legaler Herrschaft, basierend auf einem formalisierten und systematisierten Recht.

Freilich bleibt jene Behauptung über die prominente Rolle des Rechts für gesellschaftlichen Zusammenhalt noch oberflächlich und unbestimmt, weil sie nichts darüber sagt, in welcher Weise das Recht dabei welche Funktionen übernimmt. Hier beginnen dann auch die Kontroversen. Sie lassen sich in zwei Positionen zusammenfassen, die sich in einigen Ausprägungen zu einem Gegensatz steigern können. Die erste lässt sich schlagwortartig formulieren alsThese des Zusammenhalts durch Recht: Das Recht sei eine notwendige Bedingung für gesellschaftlichen Zusammenhalt. Demnach ist das Recht genetisch und normativ primär, andere sozialintegrative Faktoren demgegenüber sekundär, sie entfalten ihre Wirksamkeit erst auf der Grundlage der juridischen Integration. Die Gesellschaft konstituiert sich nicht primär durch außerrechtliche Merkmale und Handlungen, sondern durch die Staatsbürgerschaft und die mit ihr verbundenen Rechte und Pflichten. Der in rechtlichen Verfahren geregelte Erwerb der Staatsbürgerschaft bleibt unabhängig von Merkmalen wie Abstammung, Ethnie, Religion etc. Eine Nation ist zuerst Staatsbürgernation: »Nation ist Staatsbürgergemeinschaft, nicht in erster Linie Sprach- oder Volksgemeinschaft.«4 Eine nationale Identität, ein gemeinschaftliches, aus historischen Erfahrungen sich nährendes kollektives Selbstverständnis, bildet sich in einer Staatsbürgernation erst auf dieser Grundlage.

Die These, dass Recht nur durch gesellschaftlichen Zusammenhalt möglich sei, kehrt dieses Verhältnis um. Eine Gesellschaft konstituiere sich primär durch geteilte außer- oder vorrechtliche Eigenschaften wie eine gemeinsame Sprache, ethnische Zugehörigkeit (»Volk« im substanziellen Sinne), Kultur oder Religion: »… die zunächst unpolitisch verstandene Idee des Volkes […], das vor und über dem Staat lebendig ist als schöpferische Kraft, die in der Sprache und im Volksgeist sich ausdrücken soll.«5 Die Nation ist zuerst Kulturnation. Das Recht geht nicht nur genetisch aus diesen Gemeinsamkeiten hervor, sondern hat in ihnen auch seine normative Grundlage und wird durch sie in seiner Geltung sowie in seinem Gehalt bestimmt und begrenzt. Sie werden auch nicht bewusst hergestellt oder künstlich erzeugt, sondern wachsen organisch und in langen, Generationen übergreifenden Zeiträumen. So erscheinen sie wie natürliche Tatsachen: »Den Staat auf das Volk gründen, heißt dann, ihn in Einklang bringen mit den natürlichen Ordnungen des Menschengeschlechts.«6

In vielen Debatten über gesellschaftlichen Zusammenhalt treten diese beiden Positionen häufig weniger als klar geschiedene Alternativen auf, sondern vermischt, allerdings mit unterschiedlichen Gewichtungen. Zumindest wird darauf verwiesen, dass es über die Staatsangehörigkeit und deren Grundlage, die Verfassung, hinaus noch weitere Gemeinsamkeiten geben müsse. Das rechtliche, vor allem durch die Verfassung und ihre Grundrechte gestiftete Band sei zu dünn und zu brüchig, um gesellschaftlichen Zusammenhalt vor allem in Phasen von Konflikt und Krise zu gewährleisten. Außerdem wird behauptet, dass die Trennung zwischen Staatsbürger- und Kulturnation eine Erfindung der Moderne sei, beginnend mit der Amerikanischen und der Französischen Revolution. Aus einem revolutionären Akt hervorgegangen, seien Menschenrechte und Verfassungen ein Produkt bewussten Handelns, eine künstliche Ordnung, welche die gewachsenen, im Leben der Menschen und ihrer Vorfahren verwurzelten, sich dem bewussten Handeln weitgehend entziehenden natürlichen Ordnungen entwerte.

Im Folgenden soll dargelegt werden, dass es sich insofern um eine falsche Alternative handelt, als das Recht dabei als eine äußerliche, abstrakte und formale normative Ordnung unverbundener Individuen nach dem Paradigma des Privatrechts konzipiert wird, die keinen Sitz im Leben einer sich demokratisch selbst bestimmenden Nation habe, während Konzeptionen des Zusammenhalts evoziert werden, die eine unverfügbare sittliche Substanz behaupten, die nur von einer homogenen Nation adäquat verkörpert und durch eine politisch autonome Gesetzgebung weder hergestellt noch verändert werden kann und darf. Der wesentliche Grund für diese falsche Alternative besteht darin, dass mit dem Aufkommen der Menschenrechte beide Seiten einer Veränderungsdynamik ausgesetzt werden, die auch das Verhältnis von Recht und gesellschaftlichem Zusammenhalt aus dieser starren Entgegensetzung befreit.

I.Individualistisch-kontraktualistisches und substanzialistisch-objektivistisches Rechtsverständnis


Dass die faktischen außerrechtlichen Gemeinsamkeiten unter den Angehörigen einer Gruppe von Menschen von einer anderen normativen Art seien als ihr Status als Bürger einer rechtlich konstituierten Gemeinschaft, gilt schon für das antike Rom. Dort wurde unterschieden zwischen der Herkunft eines Menschen, derorigo, die geografisch-lokal und genealogisch-familiär (als Filiation) bestimmt war. Unabhängig davon bestand das Bürgerrecht dercommunis patria, das man als Bürger einer Stadt (civitas) innehatte.7 Cicero fasste diese Unterscheidung so, dass jeder Römer zwei Vaterländer (duas patrias) habe: ein natürliches,patria naturae, und ein bürgerschaftliches,patria civitatis, oder rechtliches,patria iuris. Dieses definierte er als eine »Vielzahl von Menschen, die sich zusammenschließen, indem sie ein gemeinsames Recht anerkennen und ein gemeinsames Gut anstreben.«8 Wie wirkmächtig und geläufig diese...