: Muriel Spark
: Die Äbtissin von Crewe
: Diogenes
: 9783257612271
: 1
: CHF 10.00
:
: Gegenwartsliteratur (ab 1945)
: German
: 144
: Wasserzeichen
: PC/MAC/eReader/Tablet
: ePUB
Eine Abhöraffäre im Nonnenkloster, wo die Priorin mit Mikrophonen im Kreuzgang und TV-Kameras im Nähzimmer verbissen, aber stets würdevoll um ihre Wahl zur Äbtissin kämpft. Die überwachte Abtei ist unschwer als Zerrbild des Weißen Hauses zu erkennen, die Äbtissin als eine Karikatur Nixons und ihre durch die Welt reisende Beraterin, Schwester Gertrude, als Kissinger.

Muriel Spark, geboren 1918 in Edinburgh, Autorin von Romanen, Theaterstücken, Kinderbüchern und Gedichten. Zahlreiche ihrer Bücher wurden verfilmt. 1986 wurde sie zum Commandeur des Arts et des Lettres ernannt, 1993 zur Dame Commander of the British Empire; 1999 erhielt sie den Ehrendoktortitel für Literatur der Oxford University. ?Die Blütezeit der Miss Jean Brodie? wurde mit Maggie Smith in der Titelrolle verfilmt. Muriel Spark, die 2006 in Florenz verstarb, wird gerade international wiederentdeckt und gefeiert.

Was, Schwester Winifrede«, spricht die Äbtissin klar und laut in die hellhörige Luft, »was ist gegen die herkömmliche Schlüssellochmethode einzuwenden?«

Schwester Winifrede winselt bestürzt: »Aber, Mutter, wir haben darüber gesprochen …«, und ihre Stimme ist die Stimme der sehr Einfältigen, Ausdruck des Geistes, dem kein Morgen dämmert.

»Ruhe!« befiehlt die Äbtissin. »Wir sind jetzt ruhig und meditieren.« Als ob die Bäume lauschten, blickt sie hin zu den hohen Pappeln der Allee, durch die sie wandeln. Die Pappeln werfen ihre Schatten auf den sich neigenden Herbstnachmittag, und die Schatten liegen in geordneter regloser Reihe auf dem Weg wie eine zum Gottesdienst versammelte Schar demütiger Nonnen des alten Ordens. Die Äbtissin von Crewe, hoch aufragend in ihrer schlanken Gestalt, selber einer Pyramidenpappel gleich, wandelt neben Schwester Winifrede einher, richtet die hellen Augen auf den Kiesweg, auf dem die vier schwarzen Schuhe schreiten, schreiten, schreiten, immer zwei zur gleichen Zeit, bis sie zum Ende dieses Korridors der Meditation gelangen, der von der geheimen Pappelpolizei gesäumt wird.

Auf dem lichtüberfluteten weiten Rasen jenseits der Allee kommen ihnen zwei Männer in dunkler Polizeiuniform entgegen, mit zwei Schäferhunden, die an ihren kurzen Leinen zerren. Die Männer schauen geradeaus, als die Nonnen ebenso gleichgültig vorbeigehen.

Wenig später, dort draußen auf dem weiten Rasen, spricht die Äbtissin wieder. Ihr Kopf ist ein weißhäutiger englischer Schädel, schön umrahmt von der weißen Nonnenhaube. Sie ist zweiundvierzig Jahre alt, und vierzehn Generationen blasser, einflußreicher Vorfahren aus England und zehn aus Frankreich sind in die Knochen des wundervollen Kopfes gemeißelt. »Schwester Winifrede, alles, was in der Allee der Meditation gesprochen wird, wird aufgezeichnet. Das wurde Ihnen mehrfach gesagt. Werden Sie das nie begreifen?«

Schwester Winifrede hält im Gehen inne und versucht zu denken. Sie streicht über ihr schwarzes Gewand und umklammert den Rosenkranz am Gürtel. Seltsam, sie ist genauso groß wie die Äbtissin, aber nie wird sie ein Glockenturm sein, sondern eine englische Matrone bleiben – trotz der Nonnenhaube und des Gelübdes und dieser großen fleischlichen Keuschheit, die ihre flüchtigen Tage ausfüllt. Sie hält inne, mitten auf dem Rasen; Winifrede, Land der Mitternachtssonne, schaut die Äbtissin an, und unvermittelt taucht diese kleine Sonne, die Scheib