: Sasha Filipenko
: Der ehemalige Sohn
: Diogenes
: 9783257611854
: 2
: CHF 15.00
:
: Gegenwartsliteratur (ab 1945)
: German
: 320
: Wasserzeichen
: PC/MAC/eReader/Tablet
: ePUB
Eigentlich sollte der junge Franzisk Cello üben fürs Konservatorium, doch lieber genießt er das Leben in Minsk. Auf dem Weg zu einem Rockkonzert verunfallt er schwer und fällt ins Koma. Alle, seine Eltern, seine Freundin, die Ärzte, geben ihn auf. Nur seine Großmutter ist überzeugt, dass er eines Tages wieder die Augen öffnen wird. Und nach einem Jahrzehnt geschieht das auch. Aber Zisk erwacht in einem Land, das in der Zeit eingefroren scheint. Wie fühlt sich ein junger, lebenshungriger Mann in Belarus? Eine hochaktuelle Geschichte über die Sehnsucht nach Freiheit.

Sasha Filipenko, geboren 1984 in Minsk, ist ein belarussischer Schriftsteller, der auf Russisch schreibt. Nach einer abgebrochenen klassischen Musikausbildung studierte er Literatur in St. Petersburg und arbeitete als Journalist, Drehbuchautor, Gag-Schreiber für eine Satireshow und als Fernsehmoderator. Sein Roman ?Die Jagd? war ein ?Spiegel?-Bestseller. Sasha Filipenko ist leidenschaftlicher Fußballfan und wohnte bis 2020 in St. Petersburg. Er musste mit seiner Familie Russland verlassen und lebt in der Schweiz.

In der Stadt der mittelmäßigen Architekten regnete es. Die Dächer und Kirchturmspitzen wurden nass. Es änderten sich die politischen, ökologischen und futtertechnischen Bedingungen. Die Vögel flogen fort. Ohne Visum und Stempel im Pass. Alle aufs Mal, nach vorheriger Absprache. Sie flogen auf über den kaputten Straßenbahnschienen, dem Platz des Sieges und dem für immer erstarrten Riesenrad. Zogen über das graue Haus der Offiziere, den nullten Kilometer und die Klinik, in der Zisk geboren war. Über das Gebäude des Komitees für Staatssicherheit, das Hauptpostamt und die Rote Kirche, wo die verstörte, verheulte Dolmetscherin das einzige ihr bekannte Gebet flüsterte:

»Allmächt’ger Gott!

Du Herr der Welten, der großen Sonnen, Herzen klein!

Lass Belarus, das stille, traute,

von deinem Ruhm erleuchtet sein.

 

Den grauen Arbeitsalltag segne

fürs täglich Brot, fürs Heimatland,

gib Mut und Kraft, führ uns im Glauben

an unsre Wahrheit an der Hand.

 

Gib du dem Roggen pralle Ähren,

schenk unsren Taten du Erfolg!

Du mögest Macht und Glück vermehren

für unser Land und unser Volk!«

Sie betete, und die Vögel zogen weiter. Wie die Vögel flogen die Tage fort. Einer nach dem anderen, scharenweise, um nicht mehr wiederzukehren.

 

Der Chefarzt kam immer seltener vorbei. »Wozu? Ist doch für die Katz! Er liegt so oder so nur da. Ändern wird sich da nie etwas.« Aber so manche Veränderung trat doch ein. Die Nägel wurden länger. Von Zeit zu Zeit spross ein Pickel. An der Oberlippe wuchsen Bartstoppeln. Vieles deutete darauf hin, dass Franzisk noch lebte. Die Republik Belarus betrachtete ihn immer noch als ihren Staatsbürger, wenn auch handlungsunfähig. Die Ärzte empfahlen, sich auf den Tod vorzubereiten. An ein Wunder glaubten sie nicht mehr. Doch im Glauben an das Beste sprach die Großmutter weiterhin beharrlich mit Franzisk. Schwach und gebrechlich, fand sie dazu noch immer die Kraft. In der Annahme, dass es ihn nicht stören würde, drehte sie Hörspiele auf, erzählte Bücher nach und nahm den Enkel auf Spaziergänge mit.

 

»Wohin gehen wir heute, mein Schatz? Einfach nur der Nase nach? Ja? Gut … Wir wohnen, wie du weißt, im sechsten Stock. Von deinem Fenster aus sieht man den ganzen Hof. Die hohen Bäume, den Fußballplatz, die Nachbarhäuser. Übrigens, wenn der Frühling kommt, sieht man vor den Fenstern nur Grün! Die Bäume sind hoch, riesig, sie sind uralt. Man sieht weder die anderen Häuser noch den Platz, auf dem du dir von klein auf die Knie blutig geschlagen hast. Also, du holst den Aufzug, und ich schließe die beiden Türen ab. Wir haben zwei Türen und vier Schlösser. Du maulst immer und schimpfst mich deswegen, aber ich fühle mich so sicherer. Früher ließen wir unsere Wohnung bewachen. Weißt du noch? Ich hab immer angerufen und gesagt: ›Bitte bewach