: Leon de Winter
: Das Recht auf Rückkehr
: Diogenes
: 9783257610338
: 1
: CHF 15.00
:
: Gegenwartsliteratur (ab 1945)
: German
: 560
: Wasserzeichen
: PC/MAC/eReader/Tablet
: ePUB
Als der vierjährige Bennie spurlos verschwindet, denkt sein Vater, Bram Mannheim, erst an einen Unfall, dann an ein Verbrechen. Dass das Verschwinden des Jungen mit Weltpolitik zu tun haben könnte, entdeckt er erst sechzehn Jahre später. Und er tut alles, um seinen Sohn wiederzubekommen.

Leon de Winter, geboren 1954 in 's-Hertogenbosch als Sohn niederländischer Juden, arbeitet seit 1976 als freier Schriftsteller und Filmemacher und lebt in den Niederlanden. 2002 erhielt er den ?Welt?-Literaturpreis, 2006 die Buber-Rosenzweig-Medaille für seinen Kampf gegen Antisemitismus, und 2009 wurde er mit dem Literaturpreis der Provinz Brabant für Das Recht auf Rückkehr ausgezeichnet. Seine Romane wurden in 20 Sprachen übersetzt, zuletzt erschienen bei Diogenes ?Ein gutes Herz? (2013) und ?Geronimo? (2016).

ERSTER TEIL


Tel Aviv


Zwanzig Jahre früher
April2004

1


Er hatte das Angebot abgelehnt. Die meisten Historiker auf der Welt wären an seiner Stelle vor Freude auf die Knie gesunken, aber Bram hatte nein gesagt. Niemand in seinem Umfeld wusste von dem Anerbieten, bis auf Rachel natürlich, und wenn er darauf eingegangen wäre, hätte es mit Sicherheit für öffentlichen Unmut gesorgt. So ganz einwandfrei war ein Wegzug aus Israel nie; jeder, der für längere Zeit wegging und den Windschatten eines westlichen Landes aufsuchte, zog sich die Verachtung der gesamten Nation zu. Doch in dieser Verachtung schwang nicht selten eine gehörige Portion Neid mit. Wer wollte nicht weg aus diesem Irrenhaus? Wer konnte in dem Dreck, der seit Jahrzehnten nicht nur aus den Gebieten, sondern aus der gesamten Region auf sie abgeschleudert wurde, noch frei atmen? Alle wollten weg, aber zugleich wollte niemand aufgeben und dem wundervollen Experiment, das dieses Land darstellte, den Todesstoß versetzen. Dies war Brams Land, dies waren sein Sand und seine Felsen, und mochte es vielleicht auch andere Orte auf der Welt geben, wo er um ein Uhr nachts entspannt unter einer alten Palme draußen in der süßen Stadtluft stehen konnte, er hatte nun mal hier Wurzeln geschlagen, hier seine Frau gefunden, hier ihr Kind gezeugt und hier seine Doktorarbeit verfasst, die ihn nicht nur zum Hochschullehrer gemacht, sondern ihm auch einen gewissen akademischen Ruhm eingebracht hatte.

An einer Kreuzung im Herzen des alten Tel Aviv wartete er darauf, dass in der Schneise zwischen den dicht an dicht hochgezogenen, nicht mehr als fünfstöckigen und um diese Zeit fast vollständig dunklen Gebäuden ein Taxi auftauchen würde. Er hatte zwar sein Handy bei sich und konnte auch die Taxizentrale anrufen, aber er fand es nicht unangenehm, nach einem schweißtreibenden Abend noch einen kleinen Bummel zu machen; er beschloss, zur Bograshov, einer der großen Durchgangsstraßen, zu laufen. Mit dem Zeigefinger der einen Hand hielt er das über die Schulter geworfene Jackett am Aufhänger fest, mit der anderen Hand schlenkerte er seine dicke, braune Aktentasche.

Die Sitzung, an der er gerade teilgenommen hatte, hatte sich doch länger hingezogen als versprochen, und so hatte er sich vor zwei Stunden, als sein Handy läutete und auf dem Display die erwartete amerikanische Nummer aufleuchtete, entschuldigt und den kleinen Saal verlassen, in dem sie seit acht Uhr beratschlagt hatten. Draußen auf dem kahlen Korridor, unter dem kalten Licht der Leuchtstoffröhren hatte er dann mit gedämpfter Stimme sein Gespräch mit dem Chef der Historiker in Princeton, Frederick Johanson, geführt.

Sie kannten sich von Kongressen und aus Beiträgen in Fachzeit