: Petros Markaris
: Balkan Blues
: Diogenes
: 9783257603217
: 1
: CHF 13.00
:
: Krimis, Thriller, Spionage
: German
: 224
: Wasserzeichen
: PC/MAC/eReader/Tablet
: ePUB
Go to Hellas! neun Geschichten über Athen. Die Fußballeuropameisterschaft ist gewonnen, die Olympiade steht an. Mit neuerwachtem Patriotismus feiern die Griechen ihre Feste, derweil die Einwanderer aus Albanien, Bulgarien und Russland sich durchs Leben schlagen, so gut es eben geht. Auch im Einsatz: Kommissar Charitos.

Petros Markaris, geboren 1937 in Istanbul, ist Verfasser von Theaterstücken und Schöpfer einer Fernsehserie, er war Co-Autor von Theo Angelopoulos und hat deutsche Dramatiker wie Brecht und Goethe ins Griechische übertragen. Mit dem Schreiben von Kriminalromanen begann er erst Mitte der Neunzigerjahre und wurde damit international erfolgreich. Er hat zahlreiche europäische Preise gewonnen, darunter den Pepe-Carvalho-Preis sowie die Goethe-Medaille. Petros Markaris lebt in Athen.

[69] Ein Kindermärchen

Der Alte kam jeden Nachmittag um drei in den kleinen Park. Jahrein jahraus trug er dasselbe karierte Sakko und dieselbe dunkle, an den Knien abgewetzte Hose. Auf seinem Glatzkopf saß eine Baskenmütze, die ihn im Winter vor der Kälte und im Sommer vor der Sonne schützte. Stets saß er auf derselben Parkbank. Die erste halbe Stunde verbrachte er damit, zurückgelehnt und mit halb geschlossenen Lidern vor sich hinzudösen. Nach einer halben Stunde schlug er die Augen auf, klemmte den Spazierstock zwischen seine Schenkel, stützte die Hände auf den Griff und gab sich dem Studium der Parkbesucher hin.

Wie er es schaffte, tagtäglich dieselbe Parkbank leer vorzufinden, bleibt ein Rätsel. Vielleicht weil die Parkbesucher gemerkt hatten, daß er jeden Tag zur selben Stunde kam, und die Bank aus Taktgefühl oder aus Respekt vor seinem Alter nicht besetzten. Oder vielleicht weil die Mütter, immer wenn er kam, gerade ihre Sprößlinge im Kinderwagen zum[70] Mittagessen nach Hause gefahren hatten. Und die Müßiggänger zogen die rundum liegenden Cafés vor, wo man Kaffee Frappé und Cappuccino bekam.

Der einzige Stammgast, dem der Alte beim Gang in den Park begegnete, war ein kleines dunkelhäutiges Mädchen, das so schwarz war, daß es nachts bestimmt mit der Dunkelheit verschmolz. Nur seine Locken schimmerten von Kastanienbraun bis Dunkelblond. Es trug saubere Kleidung, manchmal Jeans und T-Shirt, dann wieder ein geblümtes Kleidchen. Stets jedoch hatte es dieselben winzig kleinen Turnschuhe an den Füßen.

Der Alte traf das kleine Mädchen im Park auch dann an, wenn kein anderes Kind mehr dort war. Was er nicht wußte, war, daß es um acht Uhr morgens kam und den ganzen Tag lang dort blieb. Es wurde von einem etwa dreißigjährigen Mann mit kahl geschorenem Kopf gebracht, der genau so schwarz wie das Mädchen war. Er setzte es auf eine Parkbank und ging fort. Das Mädchen streckte beide Arme aus und tastete nach den leeren Plätzen neben sich, als wolle es die unbewohnten Zimmer einer Wohnung erforschen. Dann erhob es sich, drehte eine kleine Runde, blieb dabei bei den anderen Parkbänken stehen und kehrte wiederum zu seiner zurück. Manchmal dachte es sich verschiedene Spiele aus: Es berührte im Laufen alle Bäume[71] des Parks, oder es beschrieb, auf einem Bein hüpfend, einen Kreis in der Mitte des Parks. So vertrieb es sich zwei Stunden lang die Zeit, bis um zehn die ersten Kinder mit ihren Müttern und Großmüttern eintrafen.

Nicht daß die anderen Kinder mit dem Mädchen gespielt hätten. Die einheimischen Besucher des Parks folgten strengen Verhaltensregeln. Die Kleinen, deren Mütter und Großmütter miteinander verkehrten, hatten auch untereinander Kontakt. Das schwarze Mädchen hatte niemanden und blieb daher allein. Zudem sprach es kein Griechisch. Ein paar Kinder versuchten halbherzig,