Prolog
Sie wartete bis drei Uhr morgens. Den Versuch, zu schlafen, hatte sie längst aufgegeben. Seit fünf Stunden wälzte sie sich mit angstvoll pochendem Herzen in den schweißnassen Bettlaken. Ihre Gedanken kreisten um alles, was schiefgehen konnte. Als sie schließlich zu aufgewühlt war, um noch länger liegen zu bleiben, schob sie die Decke beiseite, stand auf und zog das Nachthemd aus.
Sie kniete vor dem Bett und holte die ordentlich gefalteten Kleidungsstücke hervor, die sie darunter versteckt hatte: lange Unterwäsche, Jeans, Sweater, zwei Paar Socken, warme Handschuhe, Wollmütze. Sie hatte Wochen gebraucht, um diese paar Sachen zusammenzutragen, und ihre Flucht sogar zweimal verschieben müssen. Zum ersten Mal im Leben hatte sie gestohlen. Und sie hatte Menschen belogen, die sie liebte. Aber jetzt besaß sie genug warme Sachen, um für das kalte Wetter gewappnet zu sein. Alles andere lag in Gottes Hand.
Zitternd zog sie im Dunkeln die Kleider an. Eigentlich brauchte sie auch dicke Winterstiefel, aber dafür hatte das Geld nicht gereicht, und zum Stehlen waren sie zu groß. Also mussten ihre gefütterten Gummistiefel genügen. Sie steckte die Handschuhe in die Tasche und lauschte, um sicherzugehen, dass sonst niemand im Haus wach war. Aber außer dem Rascheln ihrer Kleidung und ihrem schnellen Atem war nichts zu hören.
Zuletzt zog sie ihr Handy unter der Matratze hervor. Sie ließ es nie an, das war zu riskant – Mobiltelefone waren lautOrdnung strikt verboten. Ein Verstoß dagegen würde umgehend hart bestraft. Hoffentlich reichte der Akku für den einen Anruf, den sie unbedingt machen musste.
Sie schob das Handy in die Gesäßtasche und schlich in Strümpfen zur Schlafzimmertür. Als sich diese ohne jedes Knarren öffnen ließ, huschte ein Lächeln über ihr Gesicht. Was ein bisschen Schmalz bei so alten Scharnieren bewirkte, war erstaunlich. Und sie machte sich erneut klar, dass es die Achtlosigkeit gegenüber den kleinen Dingen war, die einen in Schwierigkeiten brachte. Und den falschen Leuten zu vertrauen.
Das würde ihr nicht passieren. Sie vertraute niemandem, schon lange nicht mehr. Manchmal traute sie nicht mal sich selbst. Dieses Vorhaben hatte sie wochenlang geplant, jedes Detail tausendmal durchgespielt. Sie hatte sich die unzähligen Dinge vergegenwärtigt, die schiefgehen konnten, und ihren Plan entsprechend angepasst. Auch das Gelingen hatte sie sich ausgemalt und niemals aus den Augen verloren, was es für sie bedeuten würde. Das hatte sie weiterleben lassen, als alles andere verloren war.
Freiheit.
Leise schlich sie hinaus in den Flur, wo nur wenige Meter entfernt hinter drei Schlafzimmertüren die Gefahr lauerte, entdeckt zu werden. Es gab hier weder Fenster noch Licht, doch auf die Dunkelheit war sie vorbereitet, hatte sich jeden Schritt eingeprägt und kannte den Weg so gut wie ihr eigenes Gesicht. Nur drei Schritte, und sie war an der Treppe, umfasste das harte, glatte Geländer. Alle Sinne aufs Äußerste geschärft, schlich sie die Stufen hinab und trat über die vierte hinweg, die wegen eines gelockerten Nagels knarrte.
Unten an der Treppe blieb sie stehen und lauschte erneut. Der petroleumbetriebene Kühlschrank brummte, und die Uhr über dem Ofen tickte, aber beides wurde fast von den Schreien der Angst in ihrem Kopf übertönt. Ihre Knie zitterten, ihre Hände waren schweißnass und flatterten unruhig. Doch Angst konnte sie sich nicht leisten. Angst lenkte ab, und Ablenkung führte zu Fehlern. Lieber Gott, sie durfte das hier jetzt nicht vermasseln. Sie atmete tief ein und langsam aus, um sich zu beruhigen, doch es half nichts. Der kalte Hauch der Panik saß ihr fest im Nacken.
Weiter vorn zeichnete sich im Dunkeln schwach das Rechteck der Küchentür ab. Aber kein flackernder Lichtschein, um diese Zeit war niemand wach. Zu ihrer Rech