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FREITAG, 25. NOVEMBER
Um halb sieben wachte Petra auf, überrascht, dass sie die ganze Nacht durchgeschlafen hatte. Sie warf einen Blick auf Charlie, die noch tief und fest schlummerte, und setzte sich dann auf. Die Anspannung und der Stress der letzten Tage forderten ihren Tribut, und sie fühlte sich, als wäre sie von einem Bus überrollt worden.
Vorsichtig, um ihre Nichte nicht zu wecken, schlug Petra die Decke zur Seite. Sie erschauderte, als ihre Füße die kalten Holzdielen berührten, und huschte schnell zum Sessel, auf dem sie ihre Kleider abgelegt hatte. Sie zog sich an, schlüpfte in ihre Wollpantoffeln und drehte ihre langen Haare zu einem Knoten ein. Ein Blick durch die Terrassentür zeigte ihr, dass der Himmel nach dem gestrigen Schneesturm strahlend blau war. Der Garten lag unter einer dicken Schneedecke verborgen.Wie auf einer Postkarte, dachte Petra. Jenseits der Hecke, die den Garten begrenzte, war das spiegelglatte Meer zu erkennen. Der Gegensatz zu den Menschenmassen und dem Großstadtverkehr in Stockholm konnte nicht größer sein. Petra musste schlucken. Wie sehr sie ihr altes Leben vermissen würde! Zu Fuß zur Arbeit zu schlendern, während die Leute an ihr vorbei zur U-Bahn oder zum Bus hasteten, irgendwo für ein schnelles Mittagessen oder einen Kaffee einzukehren und zusammen mit Alice eine Kleinigkeit zu essen. Hier war es einfach … verlassen und still.
Ihr Handy gab ein leises Brummen von sich. Als sie den Namen des Anrufers las, erstarrte sie. Nick hatte seit ihrer Abreise aus Stockholm einige Nachrichten geschickt und mehrmals versucht, sie anzurufen, aber Petra hatte nicht darauf reagiert. Das war feige, aber sie schaffte es einfach nicht, mit ihm zu reden. Nicht jetzt. Langsam griff sie zum Telefon und starrte auf das blinkende Display. Dann drückte sie den Anruf weg. So war es für alle am besten.
Sie steckte das Handy in die Tasche und schlich zurück zum Bett. Charlie war noch nicht aufgewacht, und Petra wollte sie schlafen lassen. Vorsichtig strich sie ihr eine Haarsträhne aus dem Gesicht, bevor sie das Gästezimmer verließ, um Viveka zu suchen. Hoffentlich würde sich Zeit finden, um ihrer Gastgeberin all die Fragen über ihre Eltern und das Haus zu stellen, die ihr auf der Seele brannten.
Im Flur blieb sie einen Augenblick stehen. Bei Tageslicht sah es hier ganz anders aus. Sie betrachtete erneut das Durcheinander aus Bildern und Fotos an der Wand. Es wirkte, als hätte jemand einfach hier und dort ein Bild aufgehängt, wo gerade Platz war, ohne sich auch nur im Ansatz Gedanken darüber zu machen, ob die Motive oder Rahmen zusammenpassten.
Ein Aquarell erregte ihre Aufmerksamkeit. Es strahlte eine Intensität aus, die es ihr unmöglich machte, den Blick abzuwenden. Die Frau auf dem Bild wirkte fast lebendig, wie sie mit halb abgewandtem Gesicht dastand und auf einen blühenden Garten hinausschaute.
»Du musst die Wahrheit sagen!«, ertönte in diesem Moment eine dunkle Stimme aus der Küche, und Petra zuckte zusammen.
»Die Wahrheit ist nicht immer angebracht. Zumindest ist sie es jetzt nicht«, erwiderte Viveka und klapperte mit einigen Töpfen herum. »Manchmal schadet sie mehr, als dass sie nutzt.«
Stuhlbeine kratzten über den Boden. »Das ist doch Wahnsinn. Du hast …«
Petra war drauf und dran, sich wieder zurück ins Gästezimmer zu schleichen, als der Hund laut bellend verriet, dass sie im Flur stand. Zögernd betrat sie die Küche.
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