: Sven Hanuschek
: Keiner blickt dir hinter das Gesicht Das Leben Erich Kästners
: Carl Hanser Verlag München
: 9783446282445
: 1
: CHF 23.90
:
: Romanhafte Biographien
: German
: 528
: Wasserzeichen
: PC/MAC/eReader/Tablet
: ePUB
Zum Jubiläumsjahr: die erweiterte Neuausgabe der maßgeblichen Kästner-Biografie auf dem neuesten Stand
Erich Kästner ist ein Phänomen - seine Bücher altern nicht und finden ein immer neues, begeistertes Publikum. Dass er heute nicht nur als Jugendbuchautor, sondern auch als ernsthafter Romancier wahrgenommen wird, ist auch Sven Hanuschek zu verdanken. Zum 100. Geburtstag veröffentlichte er seine wegweisende Biografie und vervollständigte seither das Bild von Erich Kästner durch überraschende Erst- und Neuausgaben: 'Der Gang vor die Hunde', die Urfassung des 'Fabian', wurde zum Besteller genauso wie das 'Blaue Buch' mit den geheimen Tagebuchaufzeichnungen der Jahre 1941 bis 1945. Zum 125. Geburtstag (und 50. Todestag) bringt Sven Hanuschek seine Biografie auf den neuesten Stand. Sie präsentiert Erich Kästner als einen der bedeutendsten Autoren und Intellektuellen seiner Generation.

Sven Hanuschek, geboren 1964, ist Publizist und Professor am Institut für deutsche Philologie der Ludwig-Maximilians-Universitä München. Zuletzt erschien bei Hanser Arno Schmidt (Biografie, 2022), bei Zsolnay Laurel und Hardy (Eine Revision, 2010), außerdem ist er einer der Herausgeber von Elias Canettis Briefen, die 2018 unter dem Titel 'Ich erwarte von Ihnen viel' erschienen sind. Er lebt in München.

Erich Kästner, der undurchschaubare Aufklärer


Kästner ist vor allem ein berühmter Kinderbuchautor, einer der ersten deutscher Sprache und einer der wenigen von Weltgeltung; seine Kinderbücher sind in mehr als fünfzig Sprachen übersetzt. Hier hat sich ein Autor sein Publikum erworben, das ihm oft ein Leben lang treu bleibt, und das ist ihm offensichtlich leichtgefallen. Sein Einfühlungsvermögen in die erdachten Kinder und in die, die ihn lesen, hat meistens mit solch nachtwandlerischer Sicherheit funktioniert, dass man meinen möchte, er habe näher am Unbewussten gebaut als die meisten anderen Schriftsteller — das würde die Begeisterung erklären, die viele seiner Arbeiten immer noch wecken und die auch empfänglichere Erwachsene noch beim Wiederlesen der Kinderbücher empfinden.

Der »Kästner für Erwachsene« gilt als politischer Schriftsteller und Lyriker mit frivolem Einschlag, als Satiriker und Humorist; neben der Satire wären allemal noch Melancholie und Sentimentalität zu nennen, »zum großen Warner und Propheten ist Kästner zu höflich«.1 Nun hat aber jeder einen sentimentalen Winkel, und Kästner hat oft in diese Winkel hineingeleuchtet. Er hat das Prädikat ›neue Sachlichkeit‹ als junger Mann verworfen, später dann in einem umgangssprachlichen Sinn gutgeheißen. Die großen Gefühle und die Rührung, die sich aus seinen Texten immer wieder erheben, sind der Trockenheit und Lakonie ihrer Schilderung zuzuschreiben — da suhlt sich niemand, sondern untertreibt eher, und er fasst seine Anliegen so allgemein, dass die Leser ihr eigenes Leben in seine Geschichten hineintragen können.

In Kästners Romanen, durchaus auch in den Unterhaltungsromanen wieDrei Männer im Schnee, gibt es das, was in der deutschen Literatur immer vermisst wird — sie gilt als schwer, unverständlich, philosophisch, abstrakt, unsinnlich und was dergleichen Prädikate mehr sind. Kästners Prosa ist sinnlich, sozusagen angelsächsisch im besten Sinne; Abstraktionen haben ihn nie interessiert, er verwendete sie, konnte und wollte sie aber nicht füllen. Auch das verbindet ihn mit seinem Publikum. Er schrieb von Gut und Böse, von Krieg und Frieden, von Moral und Verbrechen, und jeder wusste, was er gemeint hatte. Dass das immer noch so ist, haben wir dem großen Stilisten Kästner zu verdanken; seine Sprache ist kristallklar und hat nur in einigen schwächeren Arbeiten Patina angesetzt. Nach einigen stürmischen Jugendjahren schrieb er langsam und sorgfältig, polierte so lange an seinen Texten, »bis es, wenn irgend möglich, wie hingespuckt wirkt«.2

Er war kein Avantgardist, Kästner hat kaum jemals die Möglichkeiten der Literatur erweitert; und auch das hat ihn nicht gestört — »zur A-Klasse gehört er nicht«, schrieb er in Tennis-Kategorien über sich. (II:324) Er wollte ein großes Publikum erreichen, er wollte »das Einfache / ​Das schwer zu machen ist« (Brecht), und das ist ihm gelungen. In dieser selbstgewählten Figur des »Volksschriftstellers« liegt aber die Gefahr der falschen Vertraulichkeit. Wer sich in vielen seiner Bücher so freundlich plauderlings gibt, den meint man zu kennen, dem möchte man metaphorisch schon mal auf die Schulter klopfen; und Kästner musste diese Art Verehrung in seinen letzten Jahren ertragen, obwohl er ein überaus distanzierter und schwieriger Mensch war. Ein Süßwarenfabrikant hat ihn zum Beispiel hartnäckig überzeugen wollen, seine neu entwickelte Schokolade, deren Füllung von ihrer Umhüllung kaum zu unterscheiden sei, müsse unbedingt »Das doppelte Lottchen« heißen. Kästner hat auf solche und ähnliche Ansinnen immer nur gequält geantwortet, man möge doch bitte schön von einer solchen Verwendung seines Werks absehen.

Was er uns über sein Leben mitteilen wollte, scheint überaus viel gewesen zu sein; immer wieder klingen seine Gedichte und Romane so autobiographisch, kommen die gleichen Typen einesalter ego vor, schreibt er von »ich« und »mir« und »meiner Mutter«, seine Kindheitserinnerungen heißen scheinbar unverstelltAls ich ein kleiner Junge war. Freunde wie Hermann Kesten haben diesen Eindruck noch bekräftigt, sogar die Träume, die Kästner beschreibe, »er hat sie selber geträumt«. (1: 18) Aber hier ist Vorsicht geboten — Kästner sprach in Rollen. Was er von sich erzählt hat, sind — in einigen Fällen oft wiederholte — Erzähl-Geschichten, Stilisierungen mit bezeichnenden Auslassungen und Verschiebungen. Frühere Biographen sind der falschen Vertraulichkeit oft erlegen, ließen sich von albernen Kästnereien um Vorwörtchen und Vorgärtchen anstecken, und sie vertrauten Kästners Lebensgefährtin Luiselotte Enderle — und damit letztlich ihm selbst — immer ein bisschen zu sehr.

In den Nachlässen Erich Kästners und Luiselotte Enderles sind Lücken zu beklagen. Bis auf wenige Ausnahmen wie die sogenannten Muttchen-Briefe, einige übersehene Privatbriefe und die eingegliederten Teilnachlässe von Kästners Sekretärinnen Elfriede Mechnig und Liselotte Rosenow erhält man den Eindruck, als habe jemand Privates, Persönliches entfernt und vernichtet. Über die Jahre sind vor allem aus Mechnigs Papieren Dokumente auf dem antiquarischen Markt angeboten worden, offenbar hatte sie im Freundeskreis einiges verschenkt, das dann nicht in ihren offiziellen Nachlass und damit in die Berliner Akademie der Künste gelangt ist. Gefühlsäußerungen Kästners sind in diesen Nachlässen nur ausnahmsweise überliefert — nur ›literarische‹, die ihm so nicht unmittelbar unterzuschieben sind; zusätzlich liegt der Filter einer trockenen, niemals aggressiven Ironie über ihnen. Öffnet sich der junge Autor, im narzisstischen Genierausch, in den Briefen an seine Mutter und in einigen frühen Arbeiten, ändert sich das durch sein Leben unter dem nationalsozialistischen Regime drastisch. Auch nach dem Krieg bleibt er bei der Haltung, ›sich nicht hinter das Gesicht blicken zu lassen‹, am besten noch rückwirkend.3 Es ist schon möglich, dass er in seinen letzten Jahren selbst noch seine Papiere aussortiert hat. Luiselotte Enderle war zwar ebenfalls an einem bestimmten Kästner-Bild interessiert, hat ihn aber wohl zu sehr verehrt, um in den17 Jahren zwischen seinem und ihrem Tod Materialien zu vernichten — selbst wenn es um ihr eigenes Bild vor der Nachwelt ging.

Biographien haftet stets ein Gutteil Voyeurismus gegenüber ihrem Gegenstand an, der gleichzeitig aber Gegenstand ihrer Verehrung ist. Voyeurismus ist auch nicht zum Geringsten Anliegen des Publikums, und vielleicht hat das Wort ja zu Unrecht seinen negativen Beigeschmack. Was ist schlecht am Interesse an Menschen, denen dieses Interesse — freilich erst nach ihrem Tode — gleich sein kann? Für Lebende gelten andere Maßstäbe. Bei toten Schriftstellern kann jedes biographische Indiz zur Interpretation eines Werks dienlich sein; zumal im Falle Kästners, wo lange ein rigider Maßstab zwischen Diskretion und Weichzeichnerei galt. Enderle schrieb in der Nachbemerkung ihrer Kästner-Biographie, sie habe »auch nach Frauenbeziehungen gefragt. Erich Kästner lehnte ab, jemals darüber zu sprechen. Das verbiete ihm die Diskretion.«4 Diese Diskretion hat auch anderwärts ihre schattigen Stellen; und wo das Wissen noch im Fluss ist, sich im Zuge der Arbeiten zu Kästners125. Geburtstag sicherlich noch erweitern wird, kann auch dieses Buch nur vorläufig bilanzieren. Sein Werk ist ebenfalls erst ungefähr zu überblicken — warum soll es heutigen Forschern besser gehen als Kästner selbst? Als er zusammen mit seiner Sekretärin dieGesammelten Schriften zusammenstellte, konnte er nur einen Bruchteil seiner frühen Erzählungen und Geschichten ausfindig machen. Auch als Herausgeber seiner selbst ein sicherer Stilist, hielt er einen rigiden Qualitätsanspruch aufrecht, der über Aufnehmen oder Verwerfen der frühen Arbeiten entschied. Nicht alle neuen biographischen Details sind schon zwingend mit dem Werk zusammenzubringen; obwohl letztlich nur dem Werk eine Beschäftigung mit Kästner auch noch ein halbes Jahrhundert nach seinem Tod geschuldet ist.

Es mag legitim sein, einen erklärten Moralisten nach der Moralität seines Lebens zu fragen. Das sollen andere tun; in diesem Rahmen...