: Jakuta Alikavazovic
: Wie ein Himmel in uns Meine Nacht allein im Louvre
: Carl Hanser Verlag München
: 9783446278646
: 1
: CHF 14.10
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: Romanhafte Biographien
: German
: 128
: Wasserzeichen
: PC/MAC/eReader/Tablet
: ePUB
Ein ungewöhnliches Experiment: was erlebt man in einer Nacht allein im Louvre? Jakuta Alikavazovic sucht nach der Bedeutung der Kunst für das eigene Leben.
Eine Nacht allein im Louvre gibt der Schriftstellerin Jakuta Alikavazovic Gelegenheit, an die magischen Orte ihrer Kindheit zurückzukehren. Sie versucht im Dämmerlicht die verblassten Wimpern der Mona Lisa zu erkennen und baut ihr Feldbett zu Füßen einer der berühmtesten Statuen der Welt auf. Dabei erzählt sie die Geschichte des wohl bekanntesten Museums neu. Wer weiß schon vom Geheimfach in der Venus von Milo oder der Entführung der Mona Lisa? Jakuta Alikavazovic denkt eine Nacht lang über Heimat, Liebe und Kunst nach - und wird dafür gefeiert. Das weltberühmte Museum wird zum berührenden Schauplatz für die Suche nach der Bedeutung der Kunst für das eigene Leben.

Jakuta Alikavazovic, geboren 1979 in Paris, ist eine französische Schriftstellerin. Sie wurde für ihr Werk vielfach ausgezeichnet, unter anderem mit dem Prix Goncourt du premier roman. Für Wie ein Himmel in uns erhielt sie den Prix Médicis.

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Die Nacht vom7. auf den8. März2020 habe ich allein im Louvre verbracht. Allein und gleichzeitig alles andere als allein.

Ich war in der Antikenabteilung, im Kariatidensaal, auch wenn ich mein Schlaflager im Lauf der Nacht woanders aufbauen musste. Denn die Orte haben eine Seele, die Orte haben ein Leben, vor allem im Dunkeln; und es kommt vor, dass die am häufigsten besuchten und begangenen Orte, sobald sie leer sind, sich aufbäumen und auf ihre Weise rächen, indem sie all jene verjagen, die es gewagt haben zurückzubleiben.

Vielleicht spüren diese Orte auch, dass man kein gänzlich ruhiges Gewissen hat. Dass man kein gänzlich ruhiges Herz hat.

Wer eine Nacht im Louvre verbringen will, muss sich an ein bestimmtes Protokoll halten. Meine Mutter, deren Forschungen sie im letzten Jahrhundert bis in die Russische Nationalbibliothek in Moskau führten, erzählte mir, sie habe die ersten drei Tage dort damit verbracht, den Empfang in der Mokhovaya-Straße aufzusuchen, nur um dann zu erleben, wie ihr der Zugang immer wieder verwehrt wurde. Gewisse Rituale festigen sich schnell:Ich kam an, fragte, ob meine Unterlagen eingetroffen seien, man sagte mir, sie seien noch nicht da. Ich lächelte, hinterlegte mein Geschenk und ging wieder.

Binnen drei Tagen verschenkte sie eine Schachtel Schweizer Pralinen, eine Halbliterflasche Champagner und die Make-up-Palette einer Luxusmarke. Die Geschenke hatte meine Mutter auf der Hinreise ganz gezielt in Duty-free-Shops am Flughafen Charles-de-Gaulle gekauft, denn sie ist Russin und russischsprachig — wenngleich sie ihr Russisch, wie sie zu sagen pflegt, mehr und mehr verliert, wie ein Baum seine Blätter. Als Russin ist sie sowohl mit der impliziten als auch der expliziten Etikette vertraut. Am Morgen des vierten Tages begann sie sich dennoch langsam Sorgen zu machen: Die Sachen aus den Duty-free-Läden waren aufgebraucht; sie hatte nichts mehr. Doch es wäre ein grober Verstoß gegen die Etikette gewesen, mit leeren Händen aufzutauchen. Ich wusste nicht, was ich tun sollte: Ich nahm deine Venus von Milo, die du in meinem Gepäck versteckt hattest, wie du es immer machtest, wenn ich verreiste, damit ich Paris nicht vergäße. Sie lächelte ein wenig.Wie hätte ich Paris vergessen können? Diese Stadt war meine größte Liebe.

An jenem Tag erhielt meine Mutter ihre Berechtigung. Vielleicht lag es an diesem ungewöhnlichen Geschenk. Vielleicht steht am Empfang der riesigen Moskauer Bibliothek noch immer eine Miniaturversion der Venus von Milo. Die Berliner Mauer ist gefallen, genau wie die kommunistischen Regime Europas; Gorbatschow ist nicht mehr an der Macht, hier und dort sieht man ihn manchmal in der Anzeige eines berühmten Herstellers luxuriöser Lederwaren jenseits aller ideologischen Schlachtfelder. Aber vielleicht ist meine Miniatur trotzdem noch dort. Vielleicht steht sie noch immer an diesem mythischen Ort, einer Bibliothek der Größe eines ganzen Stadtviertels, einer Stadt in der Stadt, in der Fremde sich verlaufen und manchmal, dem Geruch und Aroma nachspürend, den Raucherraum suchen, den es schon seit Jahren nicht mehr gibt. Wer weiß, vielleicht finden sie ihn manchmal? Es erscheint mir seltsam und schön, dass der Abdruck meiner Kinderhände auf einer kleinen Statue, an die ich länger als ein Vierteljahrhundert nicht gedacht habe, in einer Stadt und einem Land auf mich warten, die ich beide noch nie betreten habe.

Der Louvre von heute hat gewiss nichts mit der Leninka-Bibliothek von vor30 Jahren gemeinsam. Dennoch muss man sich auch hier als vertrauenswürdig erweisen. Die explizite und implizite Etikette ist nicht die gleiche, aber es gibt sie. Mehr oder weniger offizielle Gespräche finden statt; ein polizeiliches Führungszeugnis wird verlangt. Der Prozess ist langwierig und zweifelsohne notwendig: Man gestattet eben nicht dem Nächstbesten Zutritt zu einem solchen Ort. Zumal allein. Nachts. Als ich die Sicherheitsleute und den Museumsleiter von meinen guten Absichten überzeugt hatte, erhielt ich für mein Vorhaben endlich die lang ersehnte Erlaubnis.

Ich wolle ein Buch über den Louvre schreiben, sagte ich bei diesen Gesprächen, die eigentlich, vielleicht, Vorstellungsgespräche waren. Ich wolle ein Buch über den Louvre und meine Familie schreiben. Über den Louvre und meinen Vater. Alle fanden die Idee hervorragend. Ehrenwert. Aber die Orte — oder die Kunstwerke, die sich dort befinden — nehmen Dinge wahr, die uns selbst entgehen.

Weder die Sicherheitsleute noch der Museumsleiter und auch nicht die Leiterin der Sammlung, die mich, meine Entscheidung und mein Vorgehen durch den gesamten Prozess unterstützte, wussten es damals: Ich bin die Tochter eines Mannes, der mich bei jedem Museumsbesuch fragte, wie viele gemalte Tiere, Sonnenaufgänge, Segelboote und Monde ich gesehen hatte. Wie viele Fenster, wie viele Treppen. Wie viele Wächter und Kameras. Und wie viele Notausgänge? Und Feuerlöscher? Nein, niemand von ihnen wusste, dass ich die Tochter eines Mannes bin, der mich bei jedem unserer Besuche fragte:

Na? Wie würdest du die Mona Lisa stehlen?

Von zu Hause nehme ich die Metro. Es ist die erste Nacht, die ich getrennt von meinem Sohn verbringe, der vor Kurzem neun Monate alt wurde. Es ist schon dunkel. Es regnet. Ich überlege kurz, ein Taxi zu nehmen, aber das Taxi beschützt, macht schläfrig; ich muss mit wachen Sinnen in die Stadt hinabsteigen und dann wieder an die frische Luft zurückkehren, in die nächtlichen Straßen, die niemals dunkel sind. Ich muss, wenn nötig, den Regen auf meinem Gesicht spüren — wenn der Regen heute Abend gleichbedeutend ist mit dieser Stadt, in der ich geboren bin.

In der Metro weiß niemand, was ich vorhabe, und ich fühle mich deshalb wild und frei. Ich mag all die Geheimnisse, die in Paris zusammenkommen. Niemand beachtet mich. Ich trage einen schwarzen Mantel und eine Reisetasche aus Leder und Leinen. Die Tasche wirkt respektabel und bürgerlich, viel respektabler und bürgerlicher, als ich es bin. Sie erhält diese Ausstrahlung durch ihre Qualität. Sie hat nicht übermäßig viel gekostet, überhaupt nicht, aber sie transportiert jenseits der finanziellen Sicherheit ein gewisses Selbstvertrauen, als sei man selbst davon überzeugt, eine gut gemachte Tasche verdient zu haben. Neben Selbstvertrauen vermittelt sie auch ein Vertrauen in die Zukunft, denn sie ist robust und man sieht sofort, dass sie lange halten wird. Diese Tasche wurde allerdings gestohlen. Sagen wir lieber: gefunden. Oder, noch besser und um den gängigen Euphemismus zu verwenden:ausgeliehen. Sie ist robust, aber leicht, vermittelt Eleganz und hat eine verführerische Geschichte, weil sie versehentlich in meinen Besitz geriet. Jemand hat sie in einer Buchhandlung nahe dem Panthéon vergessen, nach einer Begegnung mit jemandem, der nicht schrieb — zumindest nicht richtig. Sein Name stand auf dem Umschlag eines Buches, auch sein Gesicht war darauf abgebildet, doch die Sätze darin stammten nicht von ihm. Sein Buch war in Wirklichkeit von jemand anderem geschrieben worden, den ich gut kannte und noch besser kennenzulernen hoffte. Deshalb war ich hingegangen — mit einem gewissen Erfolg, denn der Ghostwriter blieb, nachdem der offizielle Autor gegangen war. Wegen ihm waren die ungefähr vierzig Leute gekommen. Sie sahen sein Gesicht oft im Fernsehen und hatten das Gefühl, ihn zu kennen. Doch beim Übergang von der zweiten zur dritten Dimension geschieht einiges, auch mit Gesichtern. Ich glaube, die Leute waren überrascht und ein bisschen verunsichert, weil sie ihn wiedererkannten und dennoch etwas anderes erwartet hatten. Vielleicht war deshalb jemand aus dem Konzept geraten und hatte diese Tasche vergessen. Wie auch immer, diese Überraschung oder Enttäuschung hatte die Menschen nicht davon abgehalten, das Buch zu kaufen, ohne zu ahnen, dass die Sätze, die sie an diesem und den folgenden Abenden lesen und mit seinen Gesichtszügen in Verbindung bringen würden, nicht von ihm stammten, sondern von dem jungen Mann neben mir. Es gelang mir nicht, ihn nicht anzusehen. Das passiert mir nicht oft, und genau deshalb war ich dort — nicht wegen des Buchs oder des angeblichen Autors. Jedes Mal, wenn ich daran scheiterte, ihn nicht anzusehen, kreuzten sich unsere Blicke, denn auch ihm gelang es nicht, mich nicht anzusehen, und das war zugleich unangenehm und wundervoll. Wir blieben und fanden deshalb diese Tasche, die...