: Tijan Sila
: Radio Sarajevo
: Hanser Berlin
: 9783446278899
: 1
: CHF 14.10
:
: Romanhafte Biographien
: German
: 176
: Wasserzeichen
: PC/MAC/eReader/Tablet
: ePUB
'Eine Jugend zwischen Blauhelmen und Bon Jovi. Tijan Sila erzählt rau, verletzlich, unverstellt.' (Micky Beisenherz) Brutal ehrlich beschreibt er das Leben und Überleben im belagerten Sarajevo.
'Dies ist die Geschichte meiner Kindheit und meines Kriegs.' Als im April 1992 der Krieg beginnt, ist Tijan Sila nur zehn Jahre alt, doch bis heute kann er sich an den Geruch von gezündetem Sprengstoff erinnern. Während Sarajevo in Flammen steht, wird aus dem Jungen, der er damals war, ein junger Mann. Er streift durch die Ruinen der ausgebombten Stadt und sammelt Dinge, die von den Geflohenen und Gestorbenen zurückgeblieben sind, um sie auf dem Schwarzmarkt gegen Essen zu tauschen. Er lernt zu überleben, und er akzeptiert die grausame neue Normalität, doch zu welchem Preis?
Seine Geschichte ist eine Geschichte des Unerwarteten. Sie erzählt davon, wie Dichter zu Mördern werden und Mörder zu Helden. Sie erzählt von Menschen, denen jede Menschlichkeit jäh genommen wurde, und von den Spreißeln, die der Krieg im Hirn jedes Überlebenden hinterlässt.

Tijan Sila, geboren 1981 in Sarajevo, kam 1994 als Kriegsflüchtling nach Deutschland. Er studierte Germanistik und Anglistik in Heidelberg. 2017 erschien sein erster Roman 'Tierchen Unlimited', 2018 folgte 'Die Fahne der Wünsche', 2021 'Krach'. Darüber hinaus veröffentlichte er Essays in der ZEIT, der TAZ und dem FREITAG. Tijan Sila lebt in Kaiserslautern.

1.


Die ersten Stunden des Kriegs verbrachten wir — meine Eltern, mein Bruder und ich — im Keller unseres Wohnhauses. Wir zuckten bei jeder Detonation, schrien und gingen in die Hocke, wenn Raketen durch die Straßenfluchten kreischten, und zwischendurch sprachen wir verängstigt über das, was uns möglicherweise bevorstand. Doch als es Abend wurde, kehrten die meisten in ihre Wohnungen zurück. Der Beschuss hatte in der Dämmerung an Heftigkeit verloren, außerdem war es im Keller zu eng zum Schlafen. Wir lebten in einem unscheinbaren Plattenbau aus den frühen Siebzigerjahren, jenen der ostdeutschen Wohnungsbauserie70 nicht unähnlich, bloß waren unsere Balkons deutlich kleiner und die Fassade senffarben statt grau oder beige. Über vier Treppenhäuser verteilt beherbergte unser Haus insgesamt56 Wohnungen. Davon teilten sich jeweils vierzehn einen wohnzimmergroßen Kellerraum, in dem jede Partei ein durch morsche Lattenwände abgegrenztes Lagerräumchen hatte. Sieben standen an der linken Wand, sieben an der rechten, und im engen Flur dazwischen standen wir wie in einem übervollen Straßenbahnwaggon, die Kinder an die Schenkel ihrer Eltern gepresst. Es hätten sich bestenfalls vier bis fünf Leute zum Schlafen hinlegen können, und nach kurzer Diskussion wurde man sich einig, dieses Privileg den Rentnern unseres Treppengangs zu überlassen. Die jedoch wollten, dass man lieber uns Kinder im Keller schlafen lasse.

»Wir haben unsere Leben schon gelebt, die Kleinen nicht«, sagte Zora, eine Siebzigjährige aus der Wohnung über unserer. Ihr Ehemann, der erblindete Mihajlo, fügte hinzu, dass außerdem jeder von den Alten bereits einen Krieg überlebt habe und das schon mehr sei, als ein Mensch eigentlich verkraften könne. 

»Ob ich auch diese Scheiße überlebe, soll Gott entscheiden«, sagte er und schloss mit einer der beliebtesten Phrasen der bosnischen Sprache: »Soll Gott mich doch ficken.«

In meiner Muttersprache schimpft man häufiger und ausführlicher als in der deutschen. Man tut es, um Denkpausen zu füllen, um über Unsicherheiten hinwegzutäuschen, oder um wie Mihajlo eine Aussage zu bekräftigen. Dabei nutzt man in den meisten Fällen eine abstrakte Beschwörungsformel, die sich nicht wirklich ins Deutsche übersetzen lässt: Man wünscht die seltsamsten sexuellen Handlungen auf sich oder andere herab, manchmal vor Wut, manchmal auch voller Zärtlichkeit. Wenn Eltern zu ihrem Kind liebkosend»Jebo te miš-biribiš« sagen, so bedeutet das ungefähr: »Möge die Schmusemaus dich bumsen.« Doch die Übersetzung klingt schief und fremd, während der Satz im Bosnischen liebevoll und lustig ist.

Mein Treppengang wog die Lebenserwartungen von Jung und Alt gegeneinander auf und ließ daraufhin uns Kinder (das bedeutete: meinen Bruder, mich und Sanela aus dem ersten Stock) im Keller schlafen. Es gab noch Rafik, der erst vor Kurzem mit seinem Vater nach Sarajevo gezogen war, doch die beiden wohnten im Tiefparterre, sodass ihnen die Nacht auf dem schorfigen Zement des Kellerbodens erspart blieb und dafür unsere Mütter bei uns bleiben konnten.

Am nächsten Morgen meldete Radio Sarajevo, der Belagerungsring um die Stadt habe sich im Verlauf der Nacht geschlossen und man rechne mit einer Fortsetzung der Kampfhandlungen. Doch trotz dieser Nachricht hatten meine Eltern die Hoffnung, das Bombardement des ersten Kriegstags könnte eine einmalige Angelegenheit gewesen sein — vielleicht bloß der zwangsläufige Ausbruch jener nervösen, dunklen Stimmung, die seit Jahren dafür sorgte, dass Bosnien nicht zur Ruhe kam. Den Fassaden unserer Stadt waren über das letzte Jahrzehnt hinweg Schicht um Schicht um Schicht von blutrünstigen Graffiti aufgesprüht worden. Sie forderten »Moslems in die Gaskammer« zu treiben und eine Ausweitung von »Serbien bis nach Tokio« (das Original reimt sich). Sie behaupteten, dass Bosnien nie existiert habe, nicht existieren dürfe. Regelmäßig wurden diese Botschaften mit Wahlplakaten überklebt, die dann in der ersten Nacht ebenfalls beschmiert wurden. Hatten die Vandalen Humor, malten sie den Kandidaten nur Schnurrbärte, Brillen, Popel und schwarze Zähne ins Gesicht. Meinten sie es ernst, schrieben sie ihnen »Jude« oder »Zigeuner« auf die Stirn oder einen der Schimpfnamen, die Bosnier, Kroaten und Serben füreinander benutzten. 

Nach zwei Wochen hingen die Wahlplakate in Fetzen, überdeckt von neuen Parolen.

*

Mein Vater holte uns am nächsten Morgen aus dem Keller ab. Er war davor beim Bäcker gewesen und hatte nicht nur Brötchen und Hörnchen, sondern sogar Plunderteilchen mitgebracht, als hätte jemand Geburtstag. Ich hatte schlecht geschlafen. In meinem Traum hatte sich eine der Rosshaardecken, die Zora und Mihajlo für uns Kinder in den Keller hatten bringen lassen, zu einem Schlangenkörper zusammengerollt und versucht, die Wände hochzukriechen. Das misslang ihr jedes Mal, und dann schüttelte sie sich vor Wut und warf sich wie angeschossen hin und her. Mein Kopf fühlte sich schon den ganzen Morgen fremd an, eine große Pustel auf kleinen Schultern. Normalerweise sauste ich die Treppe zu unserer Wohnung auf und ab, ohne außer Atem zu geraten, an diesem Morgen musste ich jedoch zwei Pausen einlegen. Mein Vater musterte mich besorgt, sagte aber nichts. Oben angekommen, half ich meiner Mutter, den Tisch zu decken, dann meinem vierjährigen Bruder auf den Hochstuhl. Er stellte fest, dass ich ihm das »falsche« Frühstücksbrettchen hingelegt hatte, und bestand wütend auf »seinem«, das mit einem Mäuse-Cartoon von Uli Stein bedruckt war. Meine Mutter hatte es bei einem Symposium geschenkt bekommen. Sie war Germanistin.

»Da hast du dein Brettchen, du Nervensäge«, sagte ich.

»Selber«, sagte mein Bruder zufrieden. Wir konnten uns endlich hinsetzen.

»Denkst du, die Schule bleibt auch morgen geschlossen?«, fragte ich meine Mutter.

»Mal schauen. Hoffentlich nicht.«

»Hoffentlich doch«, sagte ich und handelte mir einen Klaps auf den Hinterkopf ein. Wir ahnten nicht, dass es mehr als ein halbes Jahr dauern würde, bis ich wieder zur Schule ging.

Ich nahm ein gekochtes Ei, schlug die Schale an der Tischkante weich — und begann plötzlich zu weinen. Meine Eltern schauten mich überrascht an.

»Was hast du?«, fragte meine Mutter. »Wieso weinst du?«

Ich konnte es mir selbst nicht erklären. Während des gestrigen Bombardements war ich so gefasst gewesen, dass mich im Keller die ganze Nachbarschaft gelobt hatte: »Wie tapfer der Junge nur ist! Unsereins kann sich an ihm ein Beispiel nehmen.«

Nun aber musste ich weinen — und sosehr ich es auch versuchte, ich schaffte es einfach nicht, mich zu beherrschen. Es war einer dieser heftigen, heiseren Heulkrämpfe, bei denen die Rotze schnell so klar wird wie die Tränen.

»Wir hätten sie nicht über Nacht im Keller lassen sollen, ich hab’s dir gesagt«, sagte meine Mutter zu meinem Vater. Sie nahm meinen Bruder auf den Arm und trug ihn ins Wohnzimmer, damit ich ihn nicht mit meiner Panik ansteckte. Um mich zu beruhigen, ging mein Vater vor mir in die Hocke und versicherte mir, dass jene, die gestern auf uns geschossen hatten, heute bestimmt selbst darüber bestürzt seien.

»Das ist menschlich.« Mein Vater reichte mir ein Brötchen aus der Papiertüte. »Manchmal tut man etwas, weil man wütend ist, und bereut es später.«

»So wie Ramiz damals, als er Damir geschlagen hat und der so geblutet hat, und dann musste Ramiz auch weinen, weil Damir so geweint hat«, schluchzte ich.

»Ganz genau.«

»Dann wird heute nicht mehr geschossen?«

»Bestimmt nicht«, versprach mein Vater.

Einen Augenblick später explodierte die erste Granate des Tages — diesmal nicht bei uns in Čengić Vila, sondern in Grbavica, dem großen Stadtteil zwei Kilometer flussabwärts. Weitere Einschläge folgten, und sie flogen dichter als gestern. Etwas pfiff an unserem Balkon vorbei — ich glaubte, ein schwarzes Reiskorn in der Luft gesehen zu haben, und eins der weißen Hochhäuser, auf die man von unserer Küche aus blickte, ging mit einem seltsamen Zirpen in Flammen auf. Der nächste Einschlag traf dasNovi Grad-Krankenhaus in unserer Nähe. Diese Detonation ließ die Wände der Wohnung schaudern. In ein paar Monaten würden wir gelernt haben, das Kaliber des Geschosses an der Heftigkeit des...