: Charlotte Runcie
: Wie Salz auf der Zunge Frauen und das Meer
: btb
: 9783641257231
: 1
: CHF 11.60
:
: Romanhafte Biographien
: German
: 400
: Wasserzeichen
: PC/MAC/eReader/Tablet
: ePUB
Das Meer hat Charlotte Runcie schon immer magisch angezogen - die beruhigende, meditative Seite ebenso wie die wilde unbezähmbare. Als Charlotte ihre geliebte Großmutter verliert und zum ersten Mal schwanger ist, verspürt sie diesen Drang so stark wie noch nie.

In »Wie Salz auf der Zunge« geht die Autorin nicht nur ihrer ganz persönlichen Faszination auf den Grund. Sie schreibt zugleich eine Kulturgeschichte der See aus weiblicher Sicht: wir erfahren von Meerjungfrauen und Najaden, griechischer Mythologie und schottischen Legenden, Schiffbrüchigen und Sirenen. »Runcie wirft ihr Netz weit aus und kombiniert sehr einfühlsam persönliches Memoir mit profunder Kulturgeschichte.« (The Times)

Charlotte Runcie ist Kolumnistin und Kulturredakteurin des »Daily Telegraph«. Sie hat einige Jahre in Edinburgh gelebt und gearbeitet, wo sie u.a. auch einen Folk Music-Chor leitete. Heute lebt sie im schottischen Grenzland. Runcie hat außerdem eine geheime Vergangenheit als Lyrikerin: Sie war Foyle Young Poet of the Year. »Wie Salz auf der Zunge« ist ihr erstes Buch.

HINAUS, HINAUS


Man riecht es, bevor man es sehen kann. In Schottland erkennt man meist am Geruch, dass man sich in der Nähe des Meeres befindet. Am ersten Januar des Jahres laufen wir am Strand von Portobello entlang – Sean, die Hündin und ich. Es ist so kalt, dass Eis die Wellen säumt, wenn sie am Ufer auslaufen, und in der Luft liegt eine klirrende Kälte. Die Promenade ist voller Menschen. Die meisten sind für einen Tag aus Edinburgh gekommen und atmen die Frische eines noch ganz jungen neuen Jahres ein. Die Hündin rennt immer wieder ins Wasser, wobei sie sich nicht weit genug hinauswagt, um schwimmen zu können. Stattdessen springt sie niesend im Seichten herum, wo die Wellen nach ihren Pfoten schnappen – sie jagt Bälle, die sie wieder verliert, sobald sie von der Gischt erfasst werden und außer Riechweite geraten. Es ist früher Nachmittag, die Sonne geht bereits unter. Das Licht verwandelt sich in ein gespenstisches Orange, am Himmel sieht man eine dunkelviolette Formation aus Schneewolken.

Wir wandern durch den Sand und beobachten, wie die abgehärteten Kinder in der Eiseskälte Sandburgen bauen, während sich noch immer leicht angeheiterte Studenten bis auf die Unterwäsche ausziehen, um ein frostiges Neujahrsbad zu wagen. Die Hündin schießt davon und kommt zufrieden zurückgerannt. Ihre Zunge hängt seitlich aus dem Maul, Brustkorb und Pfoten sind von Sand überzogen. Gedankenverloren suche ich nach etwas, was ich vom Strand mitnehmen könnte. Stränge von Blasentang wirken wie abgetrennte Finger voller Pusteln. Andere sehen wie Haarsträhnen aus, wenn man einmal von den Seepocken absieht, die sie miteinander verbinden. Und dann die Muscheln: die nachtblauen Sicheln aus Miesmuscheln mit einem Farbverlauf, der fast ins Weiße geht; oder die vollkommen runden Herzmuscheln mit ihrem eng gefalteten Wellenmuster – wie kleine, delikate Pasteten. Einmal waren hier nach einem Sturm Tausende von Seesternen an Land gespült worden und verendeten kläglich in der frischen Luft. Die Mündung des Flusses Forth öffnet an dieser Stelle seine Lippen. Das Meer liegt irgendwo weiter draußen, außer Sichtweite.

Alles, was ich lese – Lieblingsgeschichten aus meiner Kindheit oder neu entdeckte Bücher –, handelt vom Wasser. Wie einen Talisman trage ich eine Ausgabe derOdyssee in meiner Tasche, die ich oft morgens neben einem beschlagenen Fenster im Bus an irgendeiner Stelle aufschlage, und sogleich werde ich wieder tief in die meeresartigen Strömungen von Geschichten und Abhandlungen gezogen. Ich stürze mich darauf, als sei ich eine Welle, die unablässig gegen einen Schiffsbug schlägt. Ich entdecke StevensonsEntführt mit seiner unglückseligen Seereise, die sich in ein Landabenteuer verwandelt, sowie gewaltige Anthologien mit Seemannsliedern, gesammelt von dem geheimnisvollen alten Seemann und Geschichtenerzähler Stan Hugill. Ich lese BoswellsTagebuch einer Reise nach den Hebridenmit Samuel Johnson. In Boswells Biografie stolpere ich über ein Zitat von Johnson, das ich mir gleich merke: »Jeder Mann hält wenig von sich, wenn er kein Soldat geworden oder nie in See gestochen ist.«

Ich bin noch nie in