Kapitel 1 – Mica
Es gab in dem Tunnelsystem mehr Löcher als in einem Kaninchenbau und dennoch fand sich die kleine Gestalt mit erstaunlicher Sicherheit darin zurecht, während sie in der Dunkelheit von einem Gang in den nächsten hetzte. Der dünne Junge hielt sich nicht damit auf, zu lauschen, ob seine Verfolger ihm noch auf den Fersen waren, sondern rannte, als sei der Totengott persönlich hinter ihm her.
Erst als er sich durch ein weiteres Loch in einer Wand gequetscht hatte, durch das kein erwachsener Mann hindurchpassen konnte, hielt er an, ließ sich keuchend auf den harten Steinboden fallen und versuchte, wieder zu Atem zu kommen. Ein starker Hustenanfall war die Folge, von dem er sich erst nach ein paar Minuten erholte.
Mit zitternden Fingern suchte er nach dem Gegenstand in seiner Hosentasche und spürte erleichtert das kühle Metall, das sich vom ersten Moment an so richtig in seiner Hand angefühlt hatte. So sehr, dass er die Kostbarkeit unbedingt haben musste und nicht mehr hatte hergeben wollen. Vorsichtig holte er seine Beute heraus und fuhr zusammen, als plötzlich vor ihm eine Fackel aufflammte.
»Da bist du ja endlich wieder!«, erklang die Stimme eines Mädchens, dessen schmutziges Gesicht im Schein des Feuers auftauchte. Sie hatte schwarze, kurze Locken, die ihr knapp über die Augen fielen, welche von langen Wimpern umrahmt waren. Ihre Gesichtszüge waren schmal, genau wie ihr Körper, der dort, wo keine sandfarbenen Lumpen ihn verdeckten, von der Sonne gebräunt war. Ein vorübergehender Passant hätte sie vielleicht auf fünfzehn Jahre geschätzt, wenn er in ihre klugen Augen sah, womöglich etwas älter, aber durch ihr geringes Gewicht war es schwer, ihr Alter auszumachen.
Der schmächtige Junge beeilte sich, die Beute hinter seinem Rücken zu verbergen, als das Mädchen auf ihn zukam.
»Was versteckst du da, Faím?«, fragte sie argwöhnisch und hielt die Fackel etwas höher.
»Nichts«, erwiderte der Junge, immer noch heftig atmend. Auch er hatte, wie nun im flackernden Licht zu erkennen war, dunkle Locken, schwarze Augen und überall an seinem mageren Körper traten die Knochen unter seiner Haut hervor. Sein Gesicht war blass und er wirkte kränklich. Die dünnen Arme verschränkte er hinter dem Rücken und bemühte sich, einen weiteren Hustenanfall zu unterdrücken.
»Gib das her«, befahl das Mädchen und streckte die freie Hand aus.
Faím schüttelte den Kopf mit Nachdruck, aber seine Augen sahen sie ängstlich an. Sie war zwar nur zwei Jahre älter als er, überragte ihn jedoch um mehr als einen Kopf. Und er wusste, wie gut sie mit dem Messer umzugehen verstand, das an ihrem Gürtel befestigt war und nach dem sie nun griff.
»Du weißt, dass wir uns alles teilen?« Das Mädchen klang jetzt energischer. »Unsere Beute, unser Leben, unser Schicksal. Schon vergessen?« Mit der Hand machte sie ein Zeichen, das sie und Faím sich zusammen ausgedacht hatten. Dabei formte sie die Handfläche wie eine Schale und führte sie dann zu ihrem Herzen.
»Wir sind Kanalratten. Wir müssen uns nicht an das Kredo der Diebe halten.« Die Stimme des Jungen wurde mit jedem Wort leiser.
»Wir sind zwar keine Mitglieder einer Gilde, trotzdem müssen auch wir uns an Gesetze halten«, antwortete das Mädchen in festem Tonfall. »Und jetzt gib her!« Sie war mit einem raschen Schritt bei ihm und packte ihn am Oberarm, sodass er leise aufschrie.
»Au, du tust mir