Juli 2013
Bis später.
Sie wollte die Hand heben, kurz nur, so wie jeweils morgens um sieben, wenn sie mit nackten Füßen auf der Gummimatte vor der Haustür stand.
Machs gut.
Manchmal ließ er einen flüchtigen Kuss zu, wenn das Mädchen von nebenan noch nicht aus der Tür getreten war, die schreiende kleine Schwester hinter sich her zerrend.
Fahr vorsichtig, rief sie ihm nach, jeden Morgen, und im Spätherbst, pass auf, die Blätter. Gelbrot und braun lagen sie da, feucht verklebt zur rutschigen Fläche. Seit Lucas Sturz war sie froh, wenn er vor der Kurve bremste, bevor er aus ihrem Blickfeld verschwand. Mit schmerzverzerrtem Gesicht war er vor der Tür gestanden, blutrot die Striemen über Kinn und Wange. Nein!, rief er, ich bleibe nicht zu Hause, gib mir ein Pflaster, schnell.
Aber jetzt war kein Schultag, zu dem Luca hastig aufbrechen musste, es war Sonntag und Sommer. Ihre Hand blieb auf halbem Weg stehen. Luca fuhr bloß schnell zur Hauptstraße, Bargeld holen für die Reise. Sie schloss die Tür hinter sich. Im Flur stand sein leerer Rucksack. Luca sollte endlich seine Sachen packen. Nie packte er rechtzeitig, immer geschah alles in letzter Minute. Mama, rief er dann, wo ist meine blaue Turnhose? Und sie rannte in die Waschküche und rief: Kind, wie soll das mit dir enden, wenn deine Mutter nicht mehr da ist? Sie trafen sich grinsend wieder an der Haustür, er mit Zahnpasta in den Mundwinkeln und zerfledderten Heften, die er in die Schultasche stopfte, viel zu langsam. Hilfe, mein Kind ist ein Messie!, rief sie manchmal und war froh, wenn er auch lachte, während er die Turnhose nachschob und das Sandwich, das sie ihm jeden Morgen zubereitete. Wenige Tage nur war er ohne Sandwich zur Oberstufe gegangen. Dort isst keiner mehr Brote von der Mama, sagte er, sicher nicht. Mama, sagte er nach ein paar Tagen, ist okay, ein Brot, und seither lächelte sie manchmal morgens in sich hinein beim Schinkenschneiden.
Jetzt stupste sie mit dem Fuß gegen Lucas Rucksack. Da war etwas Hartes. Etwas hatte er schon eingepackt. Sie griff hinein, zog sein Necessaire hervor. Sie zögerte. Ihre Finger nestelten am Reißverschluss. Nein. Sie ließ den Beutel in den Rucksack fallen und dachte an das Notizbuch von Luca, das sie vor vielen Jahren zurückgelegt hatte, mit brennenden Wangen. MAMA IST BLÖD, hatte er in krakeligen Großbuchstaben geschrieben mit fettroten Stiften, PAPA IST LIB. Einen Totenkopf hatte er dazugezeichnet. Mama ist blöd, hämmerte es in ihrem Kopf, und wenn sie in den Wochen danach Luca tadelte, dachte sie: Jetzt denkt er, Mama ist blöd. Jetzt denkt er schon wieder, Mama ist blöd. Mama ist blöd.
Lucas Rucksack rutschte von der Wand, sie ließ ihn liegen, mitten im Flur. Soll Luca sehen, was er noch zu tun hat bis morgen früh. Um sechs Uhr würde er aus dem Haus gehen, auf seine erste Reise allein. Aber ja, hatte sie gerufen, als Luca vor Wochen von seinen Plänen erzählte, ist doch toll, wenn du allein in die Ferien fährst. Aber ich fahre nicht allein, sagte Luca, ich fahre mit Alain und Jonas. Sie hatte genickt und sich schnell erhoben, um in der Küche den Kloß zu schlucken, der plötzlich in ihrer Kehle drückte. Mein Kind allein, dachte sie und tupfte die Tränen weg, behutsam, um nicht mit roten Augen