Tape 1
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Ich weiß gar nicht richtig, wo ich anfangen soll …
Aber als Erstes möchte ich gern sagen, dass mich niemand daran hindern wird, das mir widerfahrene Unrecht zu rächen. Das ist das Wichtigste. Auf alles andere werde ich dann nach und nach zurückkommen; wie das Böse aussieht, wo es zu finden ist.
Frau Albertsen klatschte in die Hände. »Einfach verschwunden. Puff!«
Die alte Dame saß im Aufenthaltsraum neben Bibbi, Kajsas Mutter, in ihrem Sessel. Ihre Augen waren weit aufgerissen.
Vor drei Monaten hatte Kajsa mit den Aufnahmen für eine Fernsehdokumentation über ihre Mutter begonnen. Am Heiligabend hatte sie zum ersten Mal die Kamera in das Pflege- und Seniorenheim Solgløtt in Asker mitgenommen. Die Anfangsszene sollte die von Kindern und Enkeln umgebene Mutter zeigen.
Seit fünf, sechs Jahren war Kajsa als Politikjournalistin bei Kanal 4 für die Berichterstattung über die norwegische Gesundheitspolitik und Altenfürsorge verantwortlich. Das Thema hatte sie lange Zeit persönlich nicht betroffen; erst als ihre Mutter im Solgløtt-Heim gelandet war, hatte Kajsa verstanden, wie es eigentlich um diese Dinge bestellt war. Als Angehörige hatte sie jetzt die einzigartige Möglichkeit, eine realistische Darstellung der Zustände in einem Bereich vorzunehmen, der in Wahljahren stets die Aufmerksamkeit der Politiker auf sich zog, gleichwohl nie die dringend benötigten Ressourcen zugeteilt bekam.
Kajsa hatte vorab die Heimbewohner, die Angestellten und die Angehörigen von ihrem Projekt unterrichtet. Nur einige wenige Personen wollten nicht gefilmt werden. In der ersten Zeit hatten sich viele seltsam künstlich verhalten, sobald sie die Kamera einschaltete, so dass sie sich angewöhnt hatte, das Gerät die ganze Zeit mit sich herumzutragen, auch wenn es nicht lief. Nach einer Weile schien sich niemand mehr daran zu stören, und die Aufnahmen wirkten viel authentischer.
Ohne Frau Albertsen zu antworten, griff Kajsa in die Handtasche, nahm die Kamera hervor, legte sie beiläufig auf den Schoß, drückte auf den Aufnahmeknopf und sah auf dem kleinen Bildschirm an der Seite, dass sie einen schönen Ausschnitt von der alten Dame eingefangen hatte. »Was haben Sie gesagt?«, fragte sie dann.
»Noch eine«, erwiderte Frau Albertsen. »Einfach verschwunden. Puff!«
Sie beugte sich vor und legte eine Hand auf Kajsas Arm. Ihre Augen waren blass, mit dunklen Ringen um die Pupillen, so wie die Augen alter Menschen häufig aussehen. Sie schielte zu Kajsa herüber, von der Nasenwurzel zogen sich zwei tiefe Falten über ihre Stirn. Ihr Blick war eindringlich.
Kajsas Mutter lebte jetzt seit fast zwei Jahren im Altenheim, und Kajsa hatte enge Bekanntschaft mit Frau Albertsen geschlossen. Eine krummgebeugte Dame von zweiundachtzig Jahren. Ihre Gesichtshaut ähnelte der Schale einer getrockneten Weintraube. Sie war ungeheuer mitteilsam