2. Die Soldatin
28. Februar 1463 NGZ. Stunde zwei
»Mach endlich weiter, Berkoff!«, knurrte Carlos Roca. »Du bist eine elende Spaßbremse.«
Ja, der Theuretzaner knurrte. In seiner Physis und in vielen anderen Dingen ähnelte er einem aufrecht gehenden Wolfswesen. Doch wenn es um Liebesangelegenheiten ging – und die bestimmten einen großen Teil seines Daseins –, wurde Anais' Zimmerkollege zum sanften Lämmlein.
Anais zog die Holo-Karte des Dunklen Asses aus ihrem Spieldeck, versetzte sie mit einem fünfzigprozentigen Joker-Anteil und platzierte sie sorgfältig im Handlungsgeflecht. Augenblicklich stürzten sich die Frontkarten ihrer Gegner auf das Ass und versuchten, es in eine Auseinandersetzung zu verwickeln. Der Joker-Anteil kämpfte energisch dagegen an; er versprach der einen Partei ein Bündnis, um im nächsten Augenblick über sie herzufallen und sich einem anderen Partner anzubiedern.
Der heuristische Generator des Spieler-Pools schuf gute Voraussetzungen für Anais Berkoff. Sie würde die nächsten Runden überstehen und ihren Einsatz zumindest behalten, wenn nicht gar vermehren.
»Wenn ihr mich entschuldigt«, murmelte sie, sperrte ihre Spielfelder und stand auf. »Ich muss mal für kleine Mädchen.«
»Lass dir bloß nicht zu lange Zeit!«, warnte Go Kreuznach, ihrSenior. Er zeigte sein diamantstaubüberzogenes Gebiss. »Ich könnte sonst in Versuchung kommen, dir ins Spieldeck zu blicken.«
»Ja, das wäre dir zuzutrauen.« Anais seufzte theatralisch. »Immerhin hängst du deine lange Nase auch in meinen Spind, meine Arbeitsunterlagen und besonders gerne in meinen Waschkubus mit der schmutzigen Unterwäsche.«
Die Spielerrunde lachte, meckerte und jaulte, jeder nach seiner körperlichen Anlage, während der Kopf ihres Seniors bis hoch zum dürftigen Haaransatz rot anlief.
Anais drehte sich um und verließ den Raum. Sie würde beim nachmittäglichen Training für ihre Frechheiten büßen müssen. Doch dies war immer noch besser, als den Jungskein Kontra zu geben. In diesem Haufenerwartete man rabiates Verhalten, denn es schuf einen Schutzpanzer und es erleichterte jeden Verlust, der stets als Drohung im Hintergrund stand. Es war kein leichter und schon gar kein ungefährlicher Beruf, für den sie sich entschieden hatten, egal, wie gut die Technik sein mochte, die ihnen zur Verfügung stand.
Sie ging den langen Gang entlang zu den öffentlichen Waschräumen. Vorbei an den Zimmern ihrer Kameraden. Vorbei an den Einsatzspinden. Vorbei an blitzblank geputzten Gerätschaften, mit denen sie Tag für Tag trainierten.
Anais erreichte die mehrgeteilten Sanitäranlagen. Es gab beispielsweise Bereiche für Epsaler, Ertruser und Terraner und sogar eine Sauerstoffkammer für den einzigen Pontovaren an Bord, der unter den Bordbedingungen der JESSE OWENS stets an Kurzatmigkeit litt.
Sie betrat eine der Kabinen, verscheuchte den Reinigungsroboter und ließ sich schwer auf den Toilettensitz fallen.
Das Gefühl der Angst wurde schlimmer, je länger die Reise andauerte. Es wollte sich Luft bahnen, wollte ihren Körper in den Griff bekommen und aus ihr ein zitterndes, leise jammerndes Wrack machen.
Seit Beginn der Reise fühlte sie sich unwohl im Kreis ihrer Kameraden. Sie ließen sie spüren, dass Anais die »Neue« war. Sie musste Spötteleien über sich ergehen lassen, hatte Initiationsrituale durchgestanden, war immer wieder Ziel dummer Scherze geworden. Menschen mit dickerer Haut mochten problemlos über diese Dinge hinwegsehen. Sie jedoch ...
Warum hatte sie nicht auf das Urteilsvermögen ihres Vaters vertraut und die Stelle an seiner Seite im kleinen, aber feinen Familienbetrieb angenommen, der Luxusgleiter für die oberen Zehntausend Terranias produzierte? Nein, sie musste sich auf die LFT-Flotte kaprizieren, und als sei das noch nicht schlimm genug, sogar auf die Raumlandetruppen. Und natürlich musste es die Elitetruppe der RICHARD BURTON sein. Drei Kompanien mit insgesamt 900 hartgesottenen Frauen und Männern plus Kommando und TARA-Kampfroboter. Ganz bestimmt nichts für jedermann.
Anais griff in ihre Hosentasche, holte mit zittrigen Fingern ein Pflaster hervor und legte es sich auf die Zunge. Es löste sich auf, die Wirkstoffe gingen augenblicklich ins Blut über.
Gleich darauf fühlte sie sich besser. Entspannter. Die Mischung aus Psychopharmaka und Enthemmern stellte sie neu ein und machte aus ihr jenen Menschen, der sie gerne sein wollte: stark, unabhängig und durch nichts unterzukriegen.
Anais lächelte zufrieden. Sie erledigte, wozu sie gekommen war, und kehrte zum Spieltisch zurück. Einige Galax warteten darauf, gewonnen zu werden.
*
Als der Voralarm ertönte, nickten sie sich gegenseitig zu, desaktivierten das Holo-Bild des Spiels, versiegelten die gemeinsame Geldkasse und kehrten in ihre Kabinen zurück. Irgendwann würden sie weiterspielen. Vielleicht in wenigen Minuten, vielleicht in einigen Monaten.
Carlos Roca betrat den Kabinenbereich als Erster und zog sich hinter einen Energievorhang zurück. Theuretzaner legten in manchen Dingen Wert auf Intimsphäre; sie mochten es nicht, während des An- und Auskleidens beobachtet zu werden.
Anais war es recht. Sie schlüpfte in den eigenen Kabinenteil und legte ihre Sachen zurecht. Routiniert, wie sie es schon oft gemacht hatte. Trainingseinheiten zogen sich wie endlose Ketten durch ihr Leben und verliehen ihm Gestalt. Während der Reise in den Vorhof Andromedas hatte Lethem Shettle großen Wert darauf gelegt, dass sie nicht einrosteten.
Den enervierenden Trainings- und Übungseinheiten stand ein einziger Kampfeinsatz gegenüber. Sie verdrängte tunlichst die Erinnerung daran.
Sie packte ihren Einsatzkoffer, verschloss ihn mithilfe der Individual-Kennung, legte alle Ausrüstungsteile auf ihr Bett und setzte sich daneben hin.
Carlos Rocas Energievorhang erlosch. Der Wolfsmann stand ihr nun gegenüber, keine drei Meter entfernt. Sein breiter, kantiger Brustkorb hob und senkte sich regelmäßig, die Blicke waren an ihr