EIN MÄDCHEN NAMENS INSEL
England, Ende der 2010er-Jahre
In der Brook Hill Secondary School in Nordlondon fand die letzte Unterrichtsstunde des Jahres statt. Elfte Klasse, Geschichte. Nur noch fünfzehn Minuten bis zum Gong. Die Schülerinnen und Schüler wurden unruhig, sehnten die Weihnachtsferien herbei. Alle bis auf eine.
Ada Kazantzakis, sechzehn Jahre alt, saß still an ihrem Fensterplatz in der hintersten Reihe. Ihr mahagonifarbenes Haar war im Nacken zu einem Pferdeschwanz gebunden; die feinen Züge wirkten angespannt, ja verkniffen, und die großen rehbraunen Augen zeugten von wenig Schlaf in der Nacht zuvor. Sie freute sich weder auf die Feiertage noch wartete sie gespannt auf den ersten Schnee. Hin und wieder schielte sie aus dem Fenster, doch ihre Miene blieb starr.
Mittags hatte es gehagelt. Milchweiße Eiskügelchen hatten die letzten Blätter an den Bäumen zerfetzt, hatten auf das Blechdach des Fahrradschuppens getrommelt und waren in einem wilden Stepptanz auf dem Boden herumgesprungen. Inzwischen hatte sich alles wieder beruhigt, doch dass das Wetter schlechter geworden war, ließ sich nicht übersehen: Ein Wintersturm war im Anmarsch. Am Morgen hatte das Radio einen Polarwirbel gemeldet, der Großbritannien innerhalb von achtundvierzig Stunden mit rekordverdächtig tiefen Temperaturen, Eisregen und Schneestürmen heimsuchen würde. Rohrbrüche, Wasser- und Stromausfälle drohten große Teile Englands, Schottlands und Nordeuropas lahmzulegen. Die Menschen hatten Dosenfisch, Baked Beans, Nudeln und Klopapier gehortet, als stünde eine Belagerung bevor.
Unter den Schülern war das Wetter den ganzen Vormittag Gesprächsthema Nummer eins gewesen. Alle fürchteten um ihre Ferien- und Reisepläne. Nur Ada nicht. Sie hatte weder Familienbesuche noch exotische Urlaubsorte in Aussicht. Ihr Vater plante nicht wegzufahren. Er musste arbeiten. Musste er immer. Er war seit jeher ein unheilbarer Workaholic – alle, die ihn kannten, konnten das bezeugen –, doch seit dem Tod ihrer Mutter vergrub er sich in seine Forschung wie ein Maulwurf, der tief in den Gängen Wärme und Schutz sucht.
Ada hatte zwar irgendwann in ihrem jungen Leben eingesehen, dass ihr Vater anders war als andere Väter, aber seine fanatische Pflanzenliebe störte sie noch immer. Alle anderen Väter arbeiteten in Büros, Läden oder Behörden, trugen entsprechende Anzüge, weiße Hemden und glänzende schwarze Schuhe. Ihr Vater hingegen lief meist in Regenjacke, olivgrüner oder brauner Baumwollhose und klobigen Stiefeln herum. Statt mit dem Aktenkoffer verließ er das Haus mit einer Schultertasche, die ein Sammelsurium aus einer Stiellupe, einem Sezierbesteck, einer Pflanzenpresse, einem Kompass und Notizbüchern enthielt. Andere Väter sprachen ständig übers Geschäft oder über ihre Altersvorsorge; ihren Vater interessierten die toxische Wirkung von Pestiziden auf die Samenkeimung und die ökologischen Schäden durch Abholzung wesentlich mehr. Über die Auswirkungen der Entwaldung sprach er mit einer Leidenschaft, die andere Väter nur für die Fluktuationen innerhalb ihrer Aktienportfolios aufbrachten. Und er sprach nicht nur, er schrieb auch darüber: Bereits zwölf Bücher über Evolutionsökologie und Botanik hatte er verfasst. Eines trug den TitelDas geheimnisvolle Königreich: Wie Pilze unsere Vergangenheit formten, verändert unsere Zukunft. Eine andere Monografie behandelte Hornmoose, Lebermoose und Laubmoose. Auf dem Cover spannte sich eine Steinbrücke über einen Bach, der zwischen kleinen, samtig grün bewachsenen Felsen munter dahinplätscherte. Über der traumähnlichen Szenerie stand in goldenen Lettern:Ein Naturführer zu den häufigsten Moosarten Europas. Darunter war in Großbuchstaben sein Name gedruckt:KOSTAS KAZANTZAKIS.
Ada hatte keine Ahnung, wer die Leser dieser Bücher waren. In der Schule hatte sie jedenfalls niemandem etwas darüber erzählt. Warum hätte sie den anderen einen weiteren Grund liefern sollen, sie und ihre Familie für schräg zu halten?
Ihr Vater zog die Gesellschaft von Bäumen der von Menschen stets vor. So war er schon immer gewesen, doch Adas Mutter hatte es früher zumindest geschafft, seine Verschrobenheit etwas abzuschwächen – wahrscheinlich, weil sie selbst ihre Eigenheiten besaß. Seit dem Tod ihrer Mutter spürte Ada, dass sich ihr Vater von ihr entfernte, aber es konnte auch umgekehrt sein. In einem Haus voller Trauer war schwer zu erkennen, wer wem aus dem Weg ging. Nun würden sie beide nicht nur während des Sturms, sondern die ganze Weihnachtszeit daheim sein. Ada konnte nur hoffen, dass er eingekauft hatte.
Sie senkte den Blick auf ihr Heft und zog die zarten, zerbrechlichen Flügel des Schmetterlings nach, den sie unten an den Seitenrand gezeichnet hatte.
»Hey, hast du ’nen Kaugummi?«
Ada schreckte aus ihrer Träumerei auf und sah zur Seite. Sie saß zwar gern in der letzten Reihe, aber der Preis dafür war Emma-Rose als Nachbarin: ein Mädchen mit den lästigen Angewohnheiten, die Knöchel knacken zu lassen, einen Kaugummi nach dem anderen zu kauen, was in der Schule verboten war, und sich über Themen auszulassen, die niemanden interessierten.
»Nein, sorry«, antwortete Ada und schielte nervös zur Lehrerin.
»Geschichte ist etwas Faszinierendes«, sagte Mrs Walcott gerade. Ihre Budapester waren wie festgewachsen auf dem Boden hinter dem Pult, als hätte