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Wir hielten uns nun schon zwei Wochen in Cofton auf, aber ich fand mich immer noch nicht zurecht. Die Stadt lag westlich der Küste von Novyi Zem im Binnenland, viele Meilen von dem Hafen entfernt, in dem wir an Land gegangen waren. Bald würden wir uns tiefer ins Landesinnere wagen, bis in die urtümliche Grenzmark von Zemeni. Dort, so hofften wir, wären wir endgültig in Sicherheit.
Ich studierte meinen kleinen, selbst gezeichneten Stadtplan und machte mich auf den Heimweg. Ich traf Mal täglich nach der Arbeit, um mit ihm zur Herberge zurückzukehren, aber heute war ich vom vertrauten Weg abgewichen, um das Abendessen zu kaufen, und hatte mich verlaufen. Die mit Kohl und Kalbfleisch gefüllten Pasteten, die ich in meinem Lederbeutel verstaut hatte, stanken penetrant. Der Händler, der sie als Delikatesse der Zemeni angepriesen hatte, hatte mich vermutlich übers Ohr gehauen, aber das konnte mir egal sein, denn in letzter Zeit schmeckte sowieso alles, was ich aß, nach Asche. Mal und ich waren nach Cofton gekommen, um Geld für unsere Weiterreise nach Westen zu verdienen. Die Stadt, das Zentrum des Jurda-Handels, war umgeben von Feldern, auf denen die kleinen Blumen mit den orangefarbenen, anregend wirkenden Blüten angebaut wurden. In Ravka galten sie als Seltenheit, aber die Menschen hier verbrauchten sie gleich büschelweise. Manche Matrosen auf derVerrhader hatten sie gekaut, um während der langen Wachen nicht einzuschlafen. Die Männer schoben die getrockneten Blüten am liebsten hinter ihre Unterlippe, die Frauen trugen sie am Handgelenk in bestickten Beuteln bei sich. Jedes Schaufenster, an dem ich vorbeikam, warb für eine andere Sorte: Goldblatt, Die Wucht, Fegefeuer, Rausch& Ruhm. Einmal sah ich, wie ein bildhübsches Mädchen einen ganzen Mundvoll rostroten Saft in einen dieser Bronzenäpfe spuckte, die vor jeder Ladentür standen. Eine ekelhafte Sitte in Zemeni, an die ich mich wahrscheinlich nie gewöhnen würde.
Ich bog mit einem Seufzer der Erleichterung in die Hauptstraße ein, hier fand ich mich endlich wieder zurecht. Cofton kam mir immer noch unwirklich vor. Die Stadt hatte etwas Grobes und Unfertiges. Fast alle Straßen waren ungepflastert, und die Gebäude mit ihren dünnen Holzwänden und flachen Dächern erweckten den Eindruck, jeden Moment einstürzen zu wollen. Trotzdem zeugte die Stadt von Reichtum: Alle Fenster waren verglast, die Kleider der Frauen waren aus Samt und oft mit Spitzenstickereien verziert. In den Auslagen der Läden wurden keine Gewehre, Messer oder Kochtöpfe zum Kauf angeboten, sondern Schlemmereien, Kostbarkeiten und Nippes. Sogar die Bettler trugen Schuhe. So sah es in einem Land aus, das sich nicht ständig im Krieg befand.
Als ich an einem Schnapsladen vorbeiging, sah ich aus den Augenwinkeln, wie etwas Rotes vorbeihuschte.Korporalki. Mein Herz hämmerte, ich duckte mich in den Schatten zwischen zwei Häusern und griff nach der Pistole an meiner Hüfte.
Zuerst der Dolch, ermahnte ich mich und ließ die Klinge aus dem Ärmel gleiten.Ja kein Aufsehen erregen. Pistole nur im Notfall. Macht als letzter Strohhalm. Ich vermisste wieder meine von den Fabrikatoren angefertigten Handschuhe, die ich in Ravka gelassen hatte. Sie waren von kleinen Spiegeln bedeckt, sodass ich meine Gegner bei Zweikämpfen mühelos blenden konnte. Sie waren eine gute Alternative zum »Schnitt«, der jeden Feind der Länge nach halbierte. Wenn mich ein Entherzer der Korporalki entdeckte, hätte ich allerdings keine Wahl. Denn die Entherzer, die Lieblingssoldaten des Dunklen, konnten mein Herz zum Stillstand bringen oder meine Lunge zerquetschen, ohne mich auch nur zu berühren.
Nachdem ich eine Weile gewartet hatte, die feuchte Hand fest um den Griff des Dolchs geschlossen, warf ich einen Blick um die Ecke. Ich sah einen mit Fässern beladenen Karren. Der Kutscher hatte die Pferde gezügelt und sprach mit einer Frau, deren Tochter ungeduldig auf und ab sprang und ihren dunkelroten Rock flattern ließ.
Keine Korporalki. Sondern nur ein kleines Mädchen. Ich sank gegen die Mauer, holte tief Luft und versuchte, mich wieder zu beruhigen.
So wird es nicht für immer sein, rief ich mir in Erinnerung.Je länger du in Freiheit bist, desto unbeschwerter wirst du dich fühlen.
Eines Tages würde ich aus einem Schlaf erwachen, in dem mich keine Albträume geplagt hatten, und ohne Angst durch die Straßen gehen. Doch bis dahin würde ich meinen Dolch immer bei mir tragen und mich auf das Gewicht des Grisha-Stahls in meiner Hand verlassen.
Ich trat wieder auf die belebte Straße und schlang den Schal enger um meinen Hals. Das war inzwischen eine Marotte von mir. Unter dem Schal verbarg sich Morozovas Reif, der mächtig