29. Mai 1913 – Greifenau, Hinterpommern, gräfliches Landgut derer von Auwitz-Aarhayn
Er würde an den guten alten Traditionen noch ersticken. Zum Teufel mit dem alten Sturkopf! Neuerungen drängten, sonst würden sie den Anschluss verpassen. Konstantin machte sich gefasst auf unausweichliche Streitgespräche mit seinem Großvater, jetzt und in den kommenden Jahren.
Immerhin hatte er die besseren Argumente. Dieses Wissen zauberte ihm ein grimmiges Siegerlächeln ins Gesicht. Selbst wenn er Großpapa nicht würde überzeugen können, weil dieser jegliche Diskussionen im Keim erstickte – er würde trotzdem gewinnen, früher oder später, denn die Zeit spielte für ihn.
Die Kutschen, die mit ihren luxuriösen Ausstattungen Bequemlichkeit vorgaukelten, rumpelten über die gepflasterte Auffahrt. Draußen nickten die Kopfweiden zur Begrüßung. Das Herrenhaus thronte auf einem sanften Hügel. An den Ecken des Gebäudes ragten Treppentürme hoch, reich verziert mit Reliefs. Blatt- und Perlenzinken schmückten die vordere Fassade. Es war fast ein Schloss. Sie waren zu Hause.
Schon für gewöhnlich trug Caspers eine strenge Miene zur Schau, die niemals von einem Lächeln behelligt wurde. Aber jetzt gerade war sein Gesicht zu einer Fratze verzerrt. Er stürmte den Wagen entgegen, was nichts Gutes prophezeite. Die Rockschöße seiner Livree flatterten. Der Regen wusch ihm Strähnen des lichten schwarzen Haares in die Stirn.
Caspers warf einen finsteren Blick in ihre Kutsche und eilte sogleich zur zweiten, in der Katharina mit den Eltern saß. Der Hausdiener riss die Tür auf. Das war ein ungehöriges Benehmen. Alexander, Konstantins jüngster Bruder, hob spöttisch interessiert die Augenbrauen. Was da vor sich ging, verhieß Abwechslung. Sogar Mamsell Schott schien verblüfft.
Endlich blieb der Landauer vor der Freitreppe stehen. Warteten die anderen Bediensteten in der Halle auf sie? Immerhin kam die Familie nach drei Wochen Aufenthalt in der Reichshauptstadt heim. Für gewöhnlich löste ihre Ankunft einen Aufmarsch des Hauspersonals aus. Beunruhigt zwängte Konstantin sich zum schmalen Ausstieg hinaus.
Caspers zappelte hektisch vor der anderen Kutsche. Seine Stimme klang schrill. »… schon unterwegs und holt Doktor Reichenbach.« Der oberste Hausdiener trat zur Seite, und Konstantins Vater, Graf Adolphis Eitel von Auwitz-Aarhayn, stieg aus.
»Konstantin. Du ebenso, Alexander. Wir müssen …« Sein Blick sprang verstört zwischen seinen Söhnen und der leeren Treppe hin und her. Der Regen benetzte sein hochrotes Gesicht.
»Der Leiterwagen wird gerade fertig gemacht. Eugen müsste jeden Moment vorfahren«, erklärte Caspers eilfertig.
»Euer Großvater … ist … verunglückt. Wir fahren sofort hin.«
Just in dem Augenblick erschien das Pferdegespann auf dem Weg zum Vorplatz.
»Adolphis, du willst doch wohl nicht auf diesem Gefährt … mit der teuren Kleidung.« Gräfin Feodora von Auwitz-Aarhayn klang empört, verstummte aber, als sie das Gesicht ihres Mannes sah.
»Waldner, räumen Sie die Koffer runter. Wir nehmen eine Kutsche und den Leiterwagen.« Konstantins Vater wandte sich an Mamsell Schott, die mit ihm und Alexander in einem Wagen gesessen hatte. »Bringen Sie rasch einige Decken. Wir müssen meinen Vater vermutlich transportieren.«
Adolphis von Auwitz-Aarhayn packte Konstantin bei den Schultern. »Er war Holz rücken draußen im Dunkelhain.« Seine Stimme brach. »Ein morscher Baum …«
»Bei diesem Wetter?!« Es hatte den ganzen Tag geregnet. Im Wald musste es furchtbar matschig sein. Aber genau so kannte Konstantin seinen Großvater. Stur und über alles erhaben, sogar über das Wetter. Er würde sich nichts und niemandem beugen und so einem bisschen Regen schon mal gar nicht.
Der neue Kutsc