Mit übergeschlagenen Beinen und leicht nach vorne gebeugtem Oberkörper wartete Isabelle bereits eine Viertelstunde auf der Bank an Gleis sieben. Abwechselnd beobachtete sie die Reisenden, sah auf die Anzeigetafel. Die blaue Sporttasche, in die sie vorsichtshalber Sachen für fünf Tage gepackt hatte, stand neben ihr. Sie hatte den linken Arm durch die Riemen gezogen und auf ihrem Knie abgelegt. In der Rechten hielt sie einen großen Pappbecher mit etwas, das sich zwar Latte Macchiato nannte, aber nicht ansatzweise so schmeckte. Sie war nervös und wippte mit dem Fuß auf und ab. Nur noch wenige Minuten, bis der Zug einfuhr, und dann konnte die Reise ins Ungewisse beginnen. Sie war nach den unschönen Aufregungen der letzten Tage gern bereit, der Bitte ihrer Mutter nachzukommen, in Vertretung nach Frankreich zu reisen. Sie fühlte sich merkwürdig fremd, ohne dass Gefühl weiter beschreiben zu können. Sie kam sich ein bisschen vor wie im Film, wie eine Agentin, auf dem Weg zu einem fremden Ort, wo sie einen Unbekannten treffen und weitere Informationen erhalten sollte. Abenteuerlustig und gespannt, umschrieb ihre momentane Gefühlslage wohl am ehesten. Nichtsdestoweniger hatte sie zwei Dosen Pfefferspray in der Handtasche. Die Abenteuerlust hatte sie zwar gepackt, aber lebensmüde war Isabelle nicht. Schon vor zwei Tagen war sie im Kölner Hauptbahnhof gewesen und hatte sich am Fahrkartenschalter sowohl Echtheit als auch Gültigkeit des Tickets bestätigen lassen. Sie hatte sich ebenfalls die Reiseroute mit Zwischenhalten und Umsteigeinformationen ausdrucken lassen und sich vorab über die Rückreisemöglichkeiten informiert.
„Haben Sie gesehen, dass es sich bei diesem Ticket bereits um eine Hin- und Rückfahrtkarte handelt?“, hatte die Dame am Schalter gefragt und Isabelle damit in Überraschung versetzt. „Hier unten steht es, das Rückfahrtdatum ist frei wählbar.“
„Immer das Kleingedruckte“, hatte Isabelle erwidert und sich insgeheim gefreut, dass sie die Ausgaben für die Rückfahrt sparte. Sie wollte vertrauen, die Zeichen für die Echtheit des Briefs standen gut. Eine blecherne Durchsage ertönte und kündigte die Einfahrt des Zugs an. Nun sollte es also tatsächlich losgehen.Auf nach Frankreich! Sie leerte den Becher, ließ ihn mit bewusster Geste in den Mülleimer neben der Bank plumpsen und wollte in diesem Augenblick so viel mehr loslassen, als nur das bisschen Pappe. Sie hatte nicht vor, die großen Enttäuschungen der letzten Woche weiter mit sich herumzutragen.Ich will weder Sascha noch dem Café hinterhertrauern, und ein Tapetenwechsel wird mir dabei helfen, zu vergessen und mich neu zu orientieren.
Quietschend hielt der Eurocity Einfahrt in den Bahnhof, wenige Minuten später betrat Isabelle ihr Abteil in der ersten Klasse. Knapp viereinhalb Stunden würde sie nun unterwegs sein, wenn es keine unplanmäßigen Aufenthalte gab. Sie verstaute ihre Sachen und versuchte, eine bequeme Sitzposition einzunehmen. Es war gar nicht so einfach. Nun war sie doch nervös, und obwohl sie ihr Tablet ganz enthusiastisch mit einigen Büchern, die sie schon längst hatte lesen wollen, ausgestattet hatte, um sich die Zeit zu vertreiben, war ihr augenblicklich überhaupt nicht nach Lesen. Stattdessen stellte sie den Wecker ihres Handys ein, damit er sie rechtzeitig daran erinnerte, in Koblenz umzusteigen.Sicher ist sicher. Sie fühlte sich zwar nicht müde, es trieb sie aber die Sorge, einzuschlafen und den Bahnhof zu verpassen. Das wäre mehr als unangenehm. Beim nächsten Blick aus dem Fenster beobachtete sie bereits, wie der Bahnsteig langsam an ihr vorbeizog. Nun war sie unterwegs, lehnte sich zurück und ließ ihren Gedanken freien Lauf.
„Ich spreche doch gar kein Französisch“, hatte sie den Vorschlag ihrer Mutter im ersten Moment abgewehrt. „Mit dem wenigen, das ich noch aus der Schule weiß, mache ich mich lächerlich.“
Aber Mathilde hatte dieses Argument nicht gelten lassen. „Wie du siehst, hat dieser Antoine Lemaire seinen Brief auf Deutsch verfasst. Du wirst dich also ohne Weiteres gut mit ihm unterhalten können. Außerdem kannst du ausgezeichnet Englisch, und damit kommt man immer durch.“
Isabelle hatte geseufzt. „Ausgerechnet Englisch, ich habe mal gehört, dass die Franzosen gar nicht so erpicht darauf sind, Englisch zu sprechen, und gern mal so tun, als verständen sie nichts.“
„Das sind alles Vorurteile, seit wann gibst du etwas darauf?“, hatte Mathilde abgewiegelt. „Außerdem bist du eine kluge Frau. Du kannst in den nächsten Tagen bestimmt noch ein wenig lernen.“
Da hatte Isabelle herzhaft lachen müssen. „Das ist nicht dein Ernst, Mama!“
Aber Mathilde hatte keine Miene verzogen. Sie meinte es offenbar genauso, wie sie es gesagt hatte. Nachdem sie die Kanzlei erfolgreich mit Google gefunden hatten, nur einen Firmeneintrag, keine Website, hatten die beiden versucht, dort jemanden telefonisch