1. Kapitel
»Sehr geehrte Passagiere, wir werden in wenigen Minuten anlegen. Bitte kehren Sie zu Ihren Autos zurück. Alle Fußgänger begeben sich bitte zu den ausgewiesenen Ausgängen.«
Der Wind peitscht mir Haarsträhnen ins Gesicht. Gischt benetzt meine Haut, und ich umklammere die Reling fester. Die Leute um mich herum setzen sich in Bewegung, aber obwohl die Zeit drängt, kann ich mich nicht sofort von dem Anblick vor mir losreißen.
Die bunten Häuser der Hafenstadt säumen die Küste. Leuchtendes Rot, strahlendes Gelb, sanftes Hellblau. Selbst auf die Entfernung sind die Farben deutlich erkennbar, insbesondere, als ein paar Sonnenstrahlen zwischen den Wolken hervorbrechen.
Die Aufregung und Vorfreude in der Luft sind fast greifbar, aber ich kehre mit gemischten Gefühlen nach Golden Bay zurück.Nach Hause, obwohl es das schon seit einigen Jahren nicht mehr ist.
Ich hatte nicht vor, wieder herzukommen. Nicht heute. Nicht morgen. Am liebsten nie mehr.
Allerdings bleibt mir nichts anderes übrig, weil ich nirgendwo sonst hin kann.
Außerdem bin ich auf eine Hochzeit eingeladen und zu allem Überfluss auch noch eine der fünf Brautjungfern, also hatte ich gar keine andere Wahl, als meine letzten Sachen zu packen, in Montréal in den Bus zu steigen und die vierzehnstündige Fahrt nach Golden Bay auf mich zu nehmen. Die Staus und Verspätungen waren nicht eingeplant. Erst recht nicht, dass ich abends die letzte Fähre verpasse und die Nacht auf dem Festland verbringen muss – und das, wo ich ohnehin schon knapp bei Kasse bin.
All das ist auch der Grund dafür, dass ich an diesem Morgen nicht so entspannt und vorfreudig wie alle anderen nach der einstündigen Überfahrt von der Fähre herunterschlendere – sondern renne.
»Entschuldigung!«, rufe ich. »Sorry! Kann ich mal durch? Danke! Entschuldigung! Sorry!«
Mit einem viel zu schweren Rucksack und zwei Reisetaschen in den Händen schiebe und dränge ich mich an den Leuten vorbei. Sobald ich den Hafen hinter mir gelassen habe, sprinte ich die Promenade hinunter, vorbei an den farbenfrohen Häusern mit kleinen Shops, Restaurants und Cafés, bis ich das Hotel ganz am Ende erreiche.
»Guten Morgen! Ich gehöre zur Thorne-Hunting-Hochzeit«, informiere ich den Concierge am Empfang, bevor er auch nur daran denken kann, mich aufzuhalten.
Gleich habe ich es geschafft. Ich brauche nur noch – ah! Da sind die Fahrstühle.
Kurz bevor die Tür schließt, springe ich hinein und drücke den Knopf für die oberste Etage. Ich dachte immer, ich wäre ganz gut organisiert, aber die Timeline, die Gemma mir für ihren Hochzeitstag und die Vorbereitungen geschickt hat, toppt alles. Jeder hat einen detaillierten Plan erhalten, wer wann wo zu welchem Zweck sein soll. Und der zeigt mir, dass ich schon vor über einer halben Stunde in der Brautsuite hätte erscheinen müssen, um mit der Braut, den anderen Brautjungfern und der Trauzeugin für die Feier zurechtgemacht zu werden – was ich wirklich gut gebrauchen kann.
Mein Spiegelbild an der Fahrstuhlwand verzieht das Gesicht im selben Moment wie ich. Abgewetzte Jeans und zerknittertes lilafarbenes T-Shirt. Blass, Augenringe aus der Hölle, verschwitzt und mit frizzy Hair. Der Wind auf der Fähre hat meinen schulterlangen rotblonden Haaren eindeutig nicht gutgetan. Ich hätte es besser wissen müssen, aber ich habe es zu sehr genossen, am Bug zu stehen, wo die rauen Böen an mir zerrten.
Das unverkennbarePling des Aufzugs reißt mich aus meinen Gedanken. Ich hebe die Reisetaschen auf und eile den Flur entlang, bis ich die richtige Tür gefunden habe.
Tief durchatmen. Einmal. Zweimal. Schließlich hebe ich die Hand und klopfe an.
»Gemma? Ich bin’s. Ember.«
Nichts. Doch dann höre ich schnelle Schritte. Eine Sekunde später wird die Tür aufgerissen.
»Hi! Tut mir leid, dass ich zu spä…«
Gemma fällt mir um den Hals, bevor ich den Satz zu Ende bringen kann. »Du bist wirklich hier!«
»Natürlich. Ich hab doch gesagt, dass ich es schaffe.«
Sonst hätte ich meine Rolle als Brautjungfer direkt wieder abgegeben und nicht wochenlang an Online-Tanzstunden für die Afterparty teilgenommen.
»Ich freu mich so, dich zu sehen, Ember.« Gemmas Augen schwimmen in Tränen, die sie hastig mit den Fingerspitzen wegwischt. Ihre Lippen zittern, ihr Läch