: Ljudmila Ulitzkaja
: Ein fröhliches Begräbnis Roman
: Carl Hanser Verlag München
: 9783446276789
: 1
: CHF 12.70
:
: Gegenwartsliteratur (ab 1945)
: German
: 208
: Wasserzeichen
: PC/MAC/eReader/Tablet
: ePUB
Lange hat der Maler Alik nicht mehr zu leben, doch er versteht es wie kein Zweiter, den Widrigkeiten des Lebens mit Heiterkeit zu begegnen. In seinen letzten Tagen ist er in seinem Atelier umringt von seinen Liebsten - alle auf der Suche nach ihrem ganz eigenen Lebensglück. Ein eindrückliches Portrait russischer Emigranten im New York Anfang der 90er Jahre.

Ljudmila Ulitzkaja, 1943 geboren, wuchs in Moskau auf und ist eine der wichtigsten zeitgenössischen Schriftstellerinnen Russlands. Sie schreibt Drehbücher, Hörspiele, Theaterstücke und erzählende Prosa. Bei Hanser erschienen Die Lügen der Frauen (Erzählungen, 2003), das Kinderbuch Ein glücklicher Zufall (2005), Ergebenst, euer Schurik (Roman, 2005), Maschas Glück (Erzählungen, 2007), Daniel Stein (Roman, 2009), Das grüne Zelt (Roman, 2012), Die Kehrseite des Himmels (2015), Jakobsleiter (Roman, 2017), Eine Seuche in der Stadt (Szenario, 2021), Alissa kauft ihren Tod (Erzählungen, 2022) und zuletzt Die Erinnerung nicht vergessen (2023). 2008 erhielt Ljudmila Ulitzkaja den Alexandr-Men-Preis für die interkulturelle Vermittlung zwischen Russland und Deutschland, 2014 den österreichischen Staatspreis für Europäische Literatur sowie 2020 den Siegfried Lenz Preis.

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Die Hitze war entsetzlich, bei einer Luftfeuchtigkeit von fast hundert Prozent. Es schien, als stünde die ganze riesige Stadt mit ihren unmenschlichen Häusern, ihren prächtigen Parks und ihren vielfarbigen Menschen und Hunden kurz vor dem Übergang in einen anderen Aggregatzustand, als würden jeden Augenblick halbflüssige Menschen in der bouillonartigen Luft schwimmen.

Die Dusche war ständig besetzt; alle verschwanden abwechselnd dort. Sie zogen sich schon lange nicht mehr an, nur Valentina legte ihrenBH nicht ab, denn wenn sie ihre gewaltigen Brüste frei baumeln ließ, bildeten sich darunter von der Hitze wunde Stellen. Bei normalem Wetter trug sie nie einenBH. Alle waren klitschnass, das Wasser verdunstete auf dem Körper nicht mehr, die Handtücher blieben feucht, und die Haare bekam man nur mit dem Föhn trocken.

Durch die halbgeschlossenen Jalousien fiel das Licht streifig in den Raum. Die Klimaanlage war schon seit Jahren kaputt.

Im Zimmer waren fünf Frauen. Valentina im rotenBH. Nina mit langem Haar und einem goldenen Kreuz um den Hals, so abgemagert, dass Alik zu ihr sagte:

»Nina, man kann schon durch dich durchgucken und deine Rippen zählen, wie bei dem Korb da.«

Er meinte den Schlangenkorb, der in einer Ecke stand. Alik war in seiner Jugend mal in Indien gewesen, auf der Suche nach uralter Weisheit, hatte aber von dort nichts weiter mitgebracht als diesen Korb.

Dann war da noch die Nachbarin Joyka, eine verrückte Italienerin, die hier hängengeblieben war und sich diesen seltsamen Ort ausgesucht hatte, um Russisch zu lernen. Sie nahm ständig jemandem etwas übel, aber da sich niemand darum scherte, wenn sie eingeschnappt war, musste sie allen großmütig verzeihen.

Irina Pirson, früher Zirkusakrobatin und jetzt teure Rechtsanwältin, glänzte mit kunstvoll rasiertem Schamhaar und einer völlig neuen Brust, die nicht schlechter war als ihre alte  ein Werk amerikanischer Chirurgen, die keine Skrupel kennen; ihre Tochter Maika mit Spitznamen T-Shirt, fünfzehn Jahre alt, plump und unförmig, mit Brille, war als Einzige angezogen. Sie trug dicke Bermudas und dazu ein T-Shirt. Darauf prangte eine Glühlampe und in Leuchtschrift ein Wort in einem komischen Kauderwelsch: IZ!1 Das hatte Alik ihr voriges Jahr zum Geburtstag bedruckt, als er seine Hände noch bewegen konnte.

Alik selbst lag auf einer breiten Liege und wirkte so klein und jung, als wäre er sein eigener Sohn. Aber er und Nina hatten keine Kinder. Und würden nun auch keine mehr haben, das war klar. Denn Alik starb. Eine allmähliche Lähmung fraß die letzten Reste seiner Muskulatur auf. Seine Arme und Beine lagen still und leblos da und fühlten sich nicht tot und nicht lebendig an, sondern wie etwas Unheimliches dazwischen, wie erstarrender Gips. Am lebendigsten war sein leuchtend rotes Haar, das in dichten Borsten nach vorn fiel, und sein abstehender Schnauzbart, der für sein abgemagertes Gesicht nun ein bisschen zu groß war.

Seit zwei Wochen war er wieder zu Hause. Den Ärzten hatte er gesagt, er wolle nicht im Krankenhaus sterben. Es gab noch einen anderen Grund, von dem die Ärzte nichts wussten und nichts wissen sollten. Dabei hatten sie ihn liebgewonnen, die Ärzte in diesem Fließbandkrankenhaus, die kaum dazu kamen, einem Patienten ins Gesicht zu sehen, die ihm nur in den Mund blickten, in den After oder wo er sonst Schmerzen hatte.

Sein Zuhause war der reinste Durchgangshof. Von morgens bis abends Trubel, und irgendwer blieb immer über Nacht. Für Besuch war der Raum ideal, für normales Leben unmöglich. Es war ein umgebautes Loft mit einem abgeteilten Alkoven, in den die winzige Küche, das Klo mit Dusche und das schmale Schlafzimmer mit einem Stück Fenster gepfercht waren. Der Rest war ein riesiges Atelier mit Fenstern auf zwei Seiten.

In der einen Ecke auf dem Teppich übernachteten späte Gäste und zufällige Besucher. Manchmal bis zu fünf. Eine richtige Eingangstür gab es nicht, in die Wohnung gelangte man direkt aus dem Lastenaufzug; früher, vor Aliks Einzug, war damit Tabak befördert worden, und dessen Geruch hing geisterhaft noch immer in der Luft. Alik wohnte schon lange hier, fast zwanzig Jahre; er hatte damals unbesehen einen Mietvertrag unterschrieben, der sich später als ungeheuer günstig erwies. Bis heute zahlte Alik eine geradezu lächerliche Miete. Im Übrigen zahlte gar nicht er. Er besaß schon lange kein Geld mehr, nicht das kleinste bisschen.

Die Aufzugtür klappte. Fima Gruber kam herein und zog sich dabei ein derbes hellblaues Hemd vom Leib. Die nackten Frauen beachteten ihn nicht, und auch er zuckte nicht mit der Wimper. Er hatte eine Arzttasche bei sich, uralt, ein Erbstück von seinem Großvater, noch aus Charkow. Fima war Arzt in dritter Generation, vielseitig gebildet und originell, aber es ging ihm nicht gerade glänzend: Er hatte die erforderlichen amerikanischen Prüfungen noch nicht abgelegt und arbeitete vorübergehend  bereits das fünfte Jahr  als eine Art hochqualifizierter Assistent in einer teuren Klinik. Er kam jeden Tag her, als hoffe er, doch noch Glück zu haben und etwas für Alik tun zu können. Er beugte sich zu Alik hinunter.

»Wie geht s, Alter?«

»Ach, du  Bringst du den Fahrplan?«

»Was für einen Fahrplan?«, fragte Fima erstaunt.

»Für die Fähre«, antwortete Alik mit einem schwachen Lächeln.

Es geht zu Ende, dachte Fima. Das Bewusstsein trübt sich schon.

Er ging in die Küche und klapperte im Eisfach des Kühlschranks mit festgefrorenen Kühlakkus.

Idioten, was sind das alles für Idioten. Ich hasse sie, dachte T-Shirt. Sie hatte vor Kurzem die griechische Mythologie durchgenommen und ahnte als Einzige, dass Alik nicht die South Ferry meinte. Mit bösem, hochmütigem Gesicht ging sie zum Fenster, bog die Jalousie ein Stück hoch und sah hinunter. Dort war immer was los.

Alik war der erste Erwachsene, den sie nicht ignorierte. Wie viele amerikanische Kinder war sie ihre ganze Kindheit von einem Psychologen zum anderen geschleppt worden, und das nicht ohne Grund. Sie sprach nur mit Kindern, machte lediglich für ihre Mutter äußerst widerwillig eine Ausnahme, andere Erwachsene existierten für sie einfach nicht. Die Lehrer nahmen ihre Antworten in schriftlicher Form entgegen; sie waren immer exakt und lakonisch. Sie gaben ihr die besten Zensuren und zuckten die Achseln. Psychologen und Psychoanalytiker entwickelten komplizierte und höchst phantastische Hypothesen über den Grund ihres sonderbaren Verhaltens. Sie mochten Kinder, die nicht der Norm entsprachen  davon lebten sie schließlich.

Kennengelernt hatten sich Alik und T-Shirt auf einer Vernissage, wohin die Mutter ihre linkische Tochter mitgeschleppt hatte. Sie waren damals gerade von Kalifornien nach New York gezogen, und T-Shirt, die alle ihre Freunde mit einem Schlag verloren hatte, war bereit mitzukommen. Alik und ihre Mutter kannten sich aus ihrer Zirkuszeit, noch aus Moskau, hatten sich aber in Amerika seit Jahren nicht gesehen. So lange, dass Irina schon nicht mehr darüber nachdachte, was sie zu ihm sagen würde, sollten sie sich je wiedersehen. An dem Tag, als sie sich auf der Vernissage begegneten, griff er mit der linken Hand einen ihrer Jackettknöpfe mit den hühnerdicken Adlern, riss ihn mit einer abrupten Drehung ab, warf ihn hoch und fing ihn wieder auf. Dann öffnete er die Hand und blickte flüchtig auf den blitzenden Adler.

»Na, dann muss ich es dir wohl sagen.«

Seine rechte Hand hing leblos herab. Mit der Linken zog er ihren tiefblonden, sorgfältig frisierten Kopf mit dem schwarzen, perlenbesetzten Seidenband an sich und flüsterte ihr ins Ohr:

»Irina, ich werde bald sterben.«

Sie hätte sich sagen können: Na und, stirb doch. Für mich bist du schon lange tot. Aber sie spürte, wie eine dünne, schmale Klinge ihr ganz langsam tief in die Brust drang, und ein heftiger Schmerz durchbohrte sie bis zur Wirbelsäule. Neben ihr stand ihre Tochter und sah sie mit großen Augen an.

»Komm, wir gehen zu mir«, schlug Alik vor.

»Ich bin mit meiner Tochter hier. Ich weiß nicht, ob sie Lust hat.« Irina sah T-Shirt an.

Das Mädchen begleitete sie schon lange nirgends mehr hin. Irina hatte...