: Daphne du Maurier
: Jamaica Inn Roman
: Insel Verlag
: 9783458764229
: 1
: CHF 14.00
:
: Gegenwartsliteratur (ab 1945)
: German
: 345
: Wasserzeichen
: PC/MAC/eReader/Tablet
: ePUB

Düstere Geheimnisse umgeben das berüchtigte Jamaica Inn, das einsam im Moor von Cornwall liegt. Dorthin verschlägt es die junge Waise Mary nach dem Tod ihrer Mutter. Bei ihrer Tante Patience und ihrem Onkel Joss soll sie ein neues Zuhause finden. Doch das Gasthaus nahe der zerklüfteten, sturmgepeitschten Küste beherbergt dunkle Gestalten, die üblen Geschäften nachgehen - und ihr Anführer scheint Marys Onkel zu sein. Mehr und mehr wird Mary in die Machenschaften der Männer verstrickt und gerät in Lebensgefahr. Welches undurchsichtige Spiel treibt dabei Joss' jüngerer Bruder Jem, in den Mary sich verliebt hat?



<p>Daphne du Maurier wurde 1907 in London geboren und entschied sich im Alter von 19 Jahren nach einer Ferienreise an die cornische Küste, diesen Ort fortan nicht mehr zu verlassen. Alle ihre Romane lässt sie in Cornwall spielen:<em>Jamaica Inn</em>,<em>Das Wirtshaus im Bodmin Moor</em>,<em> Meine Cousine Rachel</em>und natürlich<em>Rebec a</em>, 1938 erschienen und von Hitchcock verfilmt. Daphne du Maurier starb im Alter von zweiundachtzig Jahren in Kilmarth.</p>

2


Er war ein Koloss von einem Mann, über zwei Meter groß, mit gefurchten schwarzen Augenbrauen und der Hautfarbe eines Zigeuners. Das dichte schwarze Haar fiel ihm in Fransen über die Augen und verdeckte die Ohren. Er wirkte stark wie ein Pferd, mit den unglaublich kräftigen Schultern, den langen Armen, die bis fast zu den Knien reichten, und den schinkengroßen Fäusten. Sein Körper war so massig, dass der Kopf gewissermaßen zwergenhaft wirkte, wie zwischen die Schultern gesunken, wodurch, im Verein mit den schwarzen Augenbrauen und dem dichten Haarschopf, der Eindruck einer halb gebeugten, gorillaähnlichen Gestalt entstand. Ungeachtet der langen Gliedmaßen und des mächtigen Körperbaus hatten seine Züge nichts Affenhaftes; er hatte eine Hakennase und einen Mund, der inzwischen zwar verzerrt war, früher aber einmal perfekt geschnitten gewesen sein musste, und seine großen dunklen Augen wiesen trotz Falten, Tränensäcken und roten Äderchen immer noch eine gewisse Schönheit auf.

Das Beste, was ihm geblieben war, waren seine Zähne, alle noch in gutem Zustand und schneeweiß; wenn er lächelte, bildeten sie einen deutlichen Kontrast zu seinem gebräunten Gesicht und verliehen ihm das hungrige Aussehen eines mageren Wolfs. Obwohl der Unterschied zwischen dem Lächeln eines Mannes und den gebleckten Fängen eines Wolfs eigentlich sehr groß sein sollte, bei Joss Merlyn war beides ein und dasselbe.

»Dann bist du also Mary Yellan«, sagte er schließlich und beugte den Kopf, hochgewachsen, wie er war, um sie besser in Augenschein nehmen zu können, »und du bist so weit gereist, um nach deinem Onkel Joss zu sehen. Das nenne ich sehr nett von dir.«

Er lachte erneut, machte sich vermutlich über sie lustig. Sein Lachen schallte durchs Haus und wirkte wie ein Peitschenhieb auf Marys angespannte Nerven.

»Wo ist meine Tante Patience?«, fragte sie und blickte sich suchend in dem trübe beleuchteten Flur um, der mit seinen kalten Steinfliesen und der wackligen, schmalen Treppe trostlos wirkte. »Erwartet sie mich denn nicht?«

»›Wo ist meine Tante Patience?‹«, äffte der Mann sie nach. »Wo ist mein liebes Tantchen, die mich herzen und küssen und gewaltiges Aufhebens um mich machen wird? Kannst du nicht einen Augenblick warten, ehe du zu ihr rennst? Hast du denn keinen Kuss für deinen Onkel Joss?«

Mary wich zurück. Ein abstoßender Gedanke, ihn zu küssen. Er war ohnehin entweder verrückt oder betrunken. Wahrscheinlich beides. Sie wollte ihn jedoch nicht verärgern, dafür war sie zu verängstigt.

Er sah, dass sie abwägte, was sie tun sollte, und lachte wieder.

»O nein«, sagte er, »ich werde dich nicht anrühren; du bist bei mir sicher wie in der Kirche. Ich mochte noch nie dunkle Frauen, meine Liebe. Ich habe Besseres zu tun, als mit meiner eigenen Nichte Fadenspiele zu spielen.«

Er blickte höhnisch auf sie herab, behandelte sie wie eine Idiotin, seiner eigenen Scherze müde. Dann wandte er den Kopf Richtung Treppe.

»Patience«, brüllte er, »was machst du, zum Teufel? Das Mädchen ist angekommen und jammert nach dir. Sie ist meinen Anblick jetzt schon leid.«

Es raschelte oben an der Treppe, dann waren schlurfende Schritte zu hören. Eine Kerze flackerte, und jemand rief etwas. Eine Frau kam die schmale Treppe herab, schirmte ihre Augen ab gegen das Licht. Sie trug eine schmuddelige Haube auf dem dünnen grauen Haar, das ihr in strähnigen Locken um die Schultern hing. Sie hatte die Haare an den Spitzen aufgewickelt in dem vergeblichen Versuch, ihre Löckchen wiederzuerlangen. Ihr Gesicht war eingefallen, und die Haut spannte sich über den Wangenknochen. Ihre Augen waren groß und scheinbar in einer immerwährenden Frage erstarrt, der Mund mahlte unablässig. Sie trug einen verblichenen, ehemals kirschfarbenen, mittlerweile rosa verwaschenen gestreiften Unterrock und um die Schultern einen vielfach geflickten Schal. Offenbar hatte sie gerade erst ein neues Band in ihre Haube eingezogen – ein bescheidener Versuch, ihre Kleidung aufzufrischen –, was allerdings einen Missklang erzeugte. Denn das Band leuchtete scharlachrot und stand in schrecklichem Kontrast zur Blässe ihres Gesichts. Mary starrte sie wortlos und voller Sorge an. War diese armselige, zerrupfte Gestalt, gekleidet wie eine Schlampe und zwanzig Jahre älter aussehend, tatsächlich die bezaubernde Tante Patience ihrer Träume?

Die kleine Frau kam die Treppe herunter in den Flur. Sie nahm Marys Hände und studierte ihr Gesicht. »Bist du wirklich gekommen?«, flüsterte sie. »Meine Nichte, Mary Yellan, nicht wahr? Das Kind meiner toten Schwester?«

Mary nickte und dankte Gott, dass ihre Mutter sie jetzt nicht sehen konnte. »Liebe Tante Patience«, sagte sie sanft, »ich freue mich, dich wiederzusehen. Es ist so viele Jahre her, seit du uns in Helford besucht hast.«

Die Frau strich weiter mit den Händen über ihre Kleider, betastete sie, und plötzlich umklammerte sie Mary, vergrub den Kopf an ihrer Schulter, holte keuchend Luft und brach in lautes, furchtsames Schluchzen aus.

»Ach, hör auf«, knurrte ihr Ehemann. »Was für eine Begrüßung ist das denn? Was plärrst du herum, du blödes Weib? Siehst du denn nicht, dass dieses Mädchen ihr Abendessen will? Mach, dass du in die Küche kommst, und gib ihr ein wenig Speck und was zu trinken.«

Er bückte sich und schulterte Marys Koffer, als wiege er weniger als eine Pappschachtel. »Ich bringe den in ihr Zimmer«, sagte er, »und wenn du nicht etwas zu essen auf dem Tisch hast, wenn ich wieder runterkomme, dann gebe ich dir einen echten Grund zum Weinen. Und dir auch, wenn du willst«, fügte er hinzu, schob sein Gesicht ganz dicht an das Marys heran und legte ihr einen großen Finger auf den Mund. »Bist du zahm oder beißt du?«, sagte er, lachte erneut bellend dem Dach entgegen, dann polterte er, den schwankenden Koffer auf der Schulter, die schmale Treppe hinauf.

Tante Patience riss sich zusammen. Sie gab sich einen gewaltigen Ruck, lächelte, strich mit einer Geste, an die sich Mary noch halb erinnerte, ihre dünnen Locken zurecht. Dann führte sie Mary unter nervösem Geblinzel und mit unablässig mahlendem Mund in einen weiteren düsteren Flur und von dort in die Küche, wo drei Kerzen brannten und im Herd ein kleines Torffeuer glühte.

»Kümmere dich nicht um deinen Onkel Joss«, sagte sie und benahm sich plötzlich ganz anders, beinahe schmeichlerisch, wie ein winselnder Hund, der durch ständige Grausamkeit zu blindem Gehorsam abgerichtet ist und ungeachtet aller Tritte und Flüche wie ein Tiger für seinen Herrn eintritt. »Man muss deinen Onkel einfach gewähren lassen. Er ist sehr eigen, und Fremde verstehen ihn nicht gleich. Er ist mir ein sehr guter Ehemann, und das seit dem Tag unserer Hochzeit.«

Sie plapperte mechanisch weiter, während sie in der gefliesten Küche hin und her ging und den Tisch fürs Abendessen deckte, Brot, Käse und Schmalz aus dem großen Schrank hinter der Wandverkleidung holte. Mary kauerte unterdessen neben dem Feuer in dem hoffnungslosen Versuch, ihre eiskalten Hände zu wärmen.

Der Torfrauch hing schwer in der Küche. Er kroch an die Decke und in die Ecken, stand wie eine dünne blaue Wolke in der Luft. Er brannte Mary in den Augen, stieg ihr in die Nase und legte sich auf ihre Zunge.

»Du wirst deinen Onkel Joss bald gernhaben und dich an seine Art gewöhnen«, fuhr ihre Tante fort. »Er ist ein sehr guter Mann und sehr tapfer. Er hat in der Gegend einen ausgezeichneten Ruf und wird allgemein respektiert. Niemand würde über Joss Merlyn ein schlechtes Wort sagen. Hier ist manchmal sehr viel los. Es ist nicht immer so ruhig wie jetzt. Die Straße ist stark befahren, jeden Tag kommen die Kutschen hier vorbei. Und der Landadel behandelt uns sehr zuvorkommend, wirklich sehr zuvorkommend. Erst gestern schaute ein Nachbar herein, und ich habe ihm für zu Hause einen Kuchen gebacken. ›Mrs Merlyn‹, hat er gesagt, ›Sie sind die einzige Frau in ganz Cornwall, die einen ordentlichen Kuchen backen kann.‹ Genau das waren seine Worte. Und selbst der Gutsbesitzer – Squire Bassat von North Hill, dem das ganze Land hier gehört – ritt kürzlich auf der Straße an mir vorbei – am Dienstag war das –, und lüpfte den Hut. ›Guten Morgen, Madam‹, grüßte er und verbeugte sich hoch zu Pferd vor mir. Man...