2. Zwei Konservative
In der Nacht hatte Sybille geträumt, dass sie vor einer riesigen Menschenmenge stand. Die Leute jubelten ihr zu, sie hatte gewinkt, war lächelnd ans Mikrofon getreten und hatte keinen Ton herausgebracht. Schweißgebadet und mit klopfendem Herzen war sie aufgewacht.
Ein ganz logischer Traum, dachte sie jetzt auf dem Weg ins Kanzleramt, ich habe einfach Angst. Stinknormale Angst.
Aber das war nur ein Grund mehr für sie, das Amt anzunehmen.
Sie hatte Elmar schon telefonisch über ihre prinzipielle Zusage informiert, und während sie sich im Schritttempo dem Kanzleramt näherte, überlegte sie, wie es sich anfühlen würde, in Zukunft wieder enger mit ihm zusammenzuarbeiten. Sie waren sich einmal sehr nahegestanden. Aber das war lange her.
Jetzt ging es erst einmal darum, Elmar ihre Standpunkte klarzumachen. Sie wollte das Amt, – aber nicht um jeden Preis.
Endlich parkte sie ihren Wagen in der gegenüberliegenden Garage und dachte amüsiert: Ich muss Elmar fragen, wannereigentlich zu den Konservativen gewechselt ist. Als Siebzehnjährige waren sie gemeinsam den Grünen beigetreten, aus Protest gegen das Establishment – heute waren sie beide ein Teil davon.
Doch für derartige Gespräche blieb zunächst keine Zeit. Erst kam Vizekanzlerin Moser ins Büro, und als die sich verabschiedete, wartete bereits der Generalsekretär, später kam auch noch der Klubobmann.
Als Sybille drei Stunden später das Kanzleramt verließ, hatte sie immer noch kein privates Wort mit Elmar gewechselt; stattdessen waren sie zum Abendessen verabredet.
*
Auf dem Weg ins Ministerium gestand Sybille sich ein, dass sie bisher keine Gelegenheit gehabt hatte, ihre Bedingungen zu formulieren. Dennoch war alles bereits beschlossene Sache. Der Parteivorstand würde noch heute ihre Bestellung absegnen. Einen Gegenkandidaten gäbe es nicht, hatte Elmar erklärt. Sybille bezweifelte, dass sich niemand für das Amt interessierte, konnte aber auch nicht umhin, sich geschmeichelt zu fühlen, dass für Elmar offenbar kein anderer in Frage kam.
Sie hätte ihm ja auch nur sagen wollen, dass sie das Amt zwar annehmen, aber weiterhin für ihre Überzeugungen einstehen würde. Wahrscheinlich war es ohnehin besser, es einfach zu tun, als lange darüber zu schwätzen.
Da bis zum Zusammentreten des Parteivorstandes am späten Nachmittag alles noch streng geheim bleiben musste, setzte Sybille sich an ihren alten Schreibtisch und überlegte, wie sie die Stunden bis zur Öffentlichmachung am besten nutzen konnte.
Sie blätterte die Zeitungen durch und stieß dabei auf einen Artikel im Tagblatt:
Der Tod des Sozialministers gibt Rätsel auf
Wie bereits mehrfach berichtet, ist Sozialminister Dr. Richard Winter vergangene Woche mit seinem Dienstwagen tödlich verunglückt. Das Begräbnis mit staatlichen Ehren fand gestern am Zentralfriedhof statt (Bericht Seiten 10/11).
Immer noch ein Rätsel bleibt indes, wie es zu diesem Unfall kommen konnte. Der Wagen des Ministers ist auf trockener, gerader Straße mit einer Geschwindigkeit von knapp 100 km/h gegen einen Baum geprallt.
Warum er von der Straße abgekommen ist, konnte auch durch die Untersuchung des Wracks nicht geklärt werden. Die Obduktion des Leichnams ergab ebenfalls keinerlei Hinweise auf ein Fremdverschulden.
Inzwischen wurde bekannt, dass der Chauffeur des Ministers zur fraglichen Zeit eine von Doktor Winter persönlich angeordnete Botenfahrt zu erledigen hatte, die aller