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«Du brauchst nicht zufällig Unterstützung im Laden, oder?»
Lexi sah ihre Mutter fragend an, die zwischen den Kleiderständern der Boutique herumwuselte und Blusen einsortierte. Sie schenkte ihr einen von diesen mitleidigen Blicken, von denen sie in den letzten zwei Jahren, drei Monaten und siebzehn Tagen sicher an die fünfundachtzigtausend erhalten hatte, und erwiderte: «Im Laden helfen kannst du mir gerne jederzeit, ich würde mich über deine Gesellschaft sogar sehr freuen, zahlen kann ich dir aber leider nichts dafür.»
Ja, das hatte sie sich schon gedacht. DieParadise Boutique war genauso ein Ein-Mann-Unternehmen – oder vielmehr Ein-Frau-Unternehmen – wie die meisten anderen Geschäfte der Stadt. Es konnte ihre Eltern über Wasser halten, weil es immerhin das einzige Bekleidungsgeschäft weit und breit war, doch viel mehr gab es leider nicht her.
«Schon okay, ich werde bestimmt etwas anderes finden.»
Wieder dieser Blick. Ihre Mutter, die ihr Ebenbild war, nur dreißig Jahre älter, strich eine Bluse mit Blumenmuster glatt, die an einem der Ständer hing. «Wie schade, dass sie dich im Museum nicht mehr brauchen. Wirst du über die Runden kommen? Dein Dad und ich könnten dir etwas leihen, bis du was Neues gefunden hast.»
«Schon gut, ich hab ein bisschen was beiseitegelegt.» Und zur Not hatte sie auch immer noch das Geld von den weiter entfernten Verwandten, das diese ihr zur Hochzeit geschickt hatten. Lexi hatte es zurückschicken wollen, doch davon hatten ihre gebrechliche Großtante Betsy in Orlando und Ludwig, ihr Cousin zweiten Grades in Düsseldorf, nichts hören wollen. Bisher hatte sie es nicht angerührt, es nicht gekonnt, doch wenn sie bald nicht einmal mehr in der Lage wäre, sich etwas zu essen zu kaufen, würde sie es wohl müssen. Denn ganz so leicht, wie sie es ihrer Mutter gegenüber klingen ließ, würde es nicht sein, in Lake Paradise einen neuen Job zu finden. Vielleicht könnte sie ein paar ältere Bewohner der Stadt pflegen, immerhin half sie oft ehrenamtlich im Seniorenheim aus. Allerdings war sie sich nicht sicher, ob das als nicht ausgebildete Pflegekraft überhaupt möglich war. Aber vielleicht suchte ja einer der beiden konkurrierenden Supermarktbesitzer Hilfe im Laden, sie könnte Regale auffüllen oder Ähnliches. Und wenn sich gar nichts anderes fand, würde sie eben auf einer der Farmen rund um Lake Paradise arbeiten müssen.
In diesem Moment bereute Lexi es richtig, nach der Highschool nicht aufs College gegangen zu sein und nichts gelernt zu haben. Sie hatte sich ihr Leben nun mal immer so vorgestellt: den Schulabschluss machen, Keith heiraten, zwei bis vier Kinder bekommen, kochen, backen, gärtnern, lesen, die Kinder in die Schule oder zu den Pfadfindern fahren, ehrenamtliche Tätigkeiten ausüben, weiterhin zeichnen, ab und zu ein Bild verkaufen und rundum zufrieden sein. So, wie ihre eigene Mutter es viele Jahre gehalten hatte, ehe die Kinder groß geworden waren und sie sich irgendwann gelangweilt und die Boutique eröffnet hatte.
Wie naiv sie doch gewesen war, dachte Lexi.
Sie kaute nervös auf ihrer Unterlippe herum und wusste schon jetzt, dass ihr am Ende wahrscheinlich nur eine Möglichkeit bleiben würde – und davor hatte sie sich bisher erfolgreich gedrückt.
«Wie wäre es denn, wenn du Trish nach einem Job fragst?», meinte ihre Mom in dem Augenblick, als könnte sie ihre Gedanken lesen.
Lexi starrte sie an. Wie machte sie das nur immer?