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Im Leben geht es nicht darum, sich zu finden.
Im Leben geht es darum, sich selbst zu erschaffen.
George Bernard Shaw
Es hatte genau siebenundzwanzig Jahre gedauert, bis Lucas Abbott sich zum ersten Mal wünschte, er wäre nicht als Zwilling geboren worden. Sonst liebte er es, die Hälfte der beiden jüngeren Abbott-Brüder zu sein, die Fröhlichkeit und gute Laune verbreiteten, wohin sie auch gingen.
Aber jetzt? Jetzt war er sauer auf seinen Doppelgänger, sauer auf jede nur denkbare Art und Weise. Lucas und Landon sahen so völlig gleich aus, dass selbst ihre eigenen Geschwister sie regelmäßig verwechselten, und sie hatten auch exakt dieselben Interessen. Sie hatten denselben Freundeskreis, denselben Tagesablauf, dasselbe Leben, und dazu gehörte auch, wie Lucas jetzt zu seiner Verzweiflung feststellen musste, der gleiche Geschmack, was Frauen anging.
Er hatte gehört, wie Landon von seinem Date mit Amanda Pressley gesprochen hatte, der Frau, mit der Lucas zwei Abende zuvor aus gewesen war.
Es war das beste erste Date gewesen, das er je gehabt hatte, aber dann hatte er mitbekommen, wie Landon ihrem Bruder Will genau dasselbe erzählt hatte. Als er das hörte, löste sich die Euphorie, die ihn seit seinem Date erfasst hatte, in Luft auf wie Wasserdampf in der Kälte.
Heute Abend würde sich die komplette Abbott-Familie in der Scheune, wo alle zehn Geschwister aufgewachsen waren, treffen, um seinen und Landons Geburtstag zu feiern, und er würde so tun müssen, als sei alles in Ordnung. Man würde ihn und den Menschen feiern, mit dem er gerade am allerwenigsten Zeit verbringen wollte. Alleine das war eine komplett neue Situation, denn normalerweise waren Landon und er »wie Pech und Schwefel«. So beschrieb es zumindest ihr Großvater.
Lucas trat aus der Dusche im Dachgeschoss der Scheune, die zu der von Landon geleiteten Weihnachtsbaumplantage der Familie gehörte. Landon hatte hier nicht einziehen wollen, also hatte er ihm den Vorrang gelassen und sich selbst eine Wohnung am Rand von Butler, ihrem Heimatstädtchen, gesucht. Eine Zeitlang hatten sie sogar darüber nachgedacht, sich die Wohnung zu teilen.
Gott sei Dank hatten sie das nicht getan, denn wenn es so wäre, würde er genau jetzt seine Koffer packen.
Er betrachtete sein Spiegelbild, und der Mann, den er sah, hatte sich verändert. Vielleicht lag es an seinem Geburtstag, vielleicht daran, dass er zum ersten Mal einer Frau begegnet war, die ihn wirklich interessierte. Er war sich nicht sicher, aber irgendetwas war definitiv anders. Er hatte sich den Bart, den er sonst den Winter über wachsen ließ, abrasiert, weil er gedacht hatte, dass er Amanda so besser gefallen würde. Jetzt ließ er ihn wieder wachsen, was glücklicherweise sehr schnell ging. Er wollte auf keinen Fall mit Landon verwechselt werden.
Die ganze Situation machte ihn angespannt und unausgeglichen. Er schlüpfte in sein gewohntes Winteroutfit – Thermo-Unterwäsche, ein Flanellhemd, eine Jeans und gefütterte Stiefel –, bevor er hinaus in die gefrorene Tundra trat und sich auf den Weg zu seiner Familie machte. Er hätte irgendeine Krankheit erfinden sollen, um dem alljährlichen Pizza- und Geburtstagskuchenessen zu entgehen, aber genau wie alle seine Geschwister erfreute sich Lucas einer außergewöhnlich guten Gesundheit. Niemand hätte ihm geglaubt, wenn er gesagt hätte, dass er krank sei.
Und weil das Letzte, was er wollte, war, dass seine Familie ihn mit Fragen löcherte, stieg er in seinen Truck und nahm den kürzesten Weg durch die Stadt. In der Elm Street fuhr er am Green Mountain Country Store der Familie zu seiner Rechten und dem Diner seiner Schwägerin Megan zu seiner Linken vorbei. Wenn man es genau nahm, gehörte der Diner seinem Großvater Elmer, aber Megan war diejenige, die den Laden schmiss.
Als Lucas die überdachte Brücke erreichte, die man überquerte, bevor man auf dem Weg zur Abbott-Scheune in die Hells Peak Road abbiegen musste, trat er hart auf die Bremse. Gerade noch rechtzeitig kam sein Truck zum Stehen, sonst wäre er mit Fred, dem Stadtelch, zusammengestoßen. Wie immer stand Fred seelenruhig mitten auf der Straße.
Lucas drückte auf die Hupe.
Fred schaute sich verstört zu ihm um, bewegte sich aber nicht vom Fleck.
»Na toll.« Lucas zog die Handbremse an und lehnte sich zurück. Er musste sich wohl damit abfinden, zu spät zu seiner eigenen Geburtstagsfeier zu kommen. Er wünschte, er wäre in seiner Werkstatt und könnte sich in der Holzarbeit verlieren, die seine Seele nährte, vor allem