: Klaus Modick
: Keyserlings Geheimnis Roman
: Verlag Kiepenheuer& Witsch GmbH
: 9783462318296
: 1
: CHF 10.00
:
: Gegenwartsliteratur (ab 1945)
: German
: 240
: Wasserzeichen
: PC/MAC/eReader/Tablet
: ePUB
Klaus Modicks Bestsellerroman über Eduard Graf von Keyserling. Sommer 1901 am Starnberger See. Lovis Corinth porträtiert Eduard Graf von Keyserling, Schriftsteller und Dandy aus baltischem Adel, den seine geheimnisumwitterte Vergangenheit einholt, als unvermutet eine durchreisende Sängerin erscheint. Handelt es sich womöglich um jene Frau, die ihn vor mehr als zwanzig Jahren in den Skandal verwickelte, der ihn zur Flucht nach Wien zwang und in Adelskreisen zur persona non grata werden ließ? Geistreich, einfühlsam, voller Witz und Verve spürt Klaus Modick den emotionalen und gesellschaftlichen Widersprüchen der Jahrhundertwende nach und erzählt davon, wie ein Außenseiter zu jenem brillanten Schriftsteller wurde, der den Zerfall der eigenen Klasse mit Melancholie und scharfsinniger Ironie beschrieb. »Ein ganz hinreißendes Buch. Bei mir geht das sogar so weit, dass ich inzwischen gar nicht mehr genau unterscheiden kann, was die wahre Biographie Keyserlings ist und was ich durch Modicks wirklich kongeniale Sprache für Keyserling halte.« Florian Illies, Bayern 2

Klaus Modick, geboren 1951, studierte in Hamburg Germanistik, Geschichte und Pädagogik, promovierte mit einer Arbeit über Lion Feuchtwanger. Seit 1984 ist er freier Schriftsteller und Übersetzer und lebt nach diversen Auslandsaufenthalten und Dozenturen wieder in seiner Geburtsstadt Oldenburg. Für sein umfangreiches Werk wurde er mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet, u.a. mit dem Nicolas-Born-Preis, dem Bettina-von-Arnim-Preis, dem Rheingau Literatur Preis und zuletzt dem Hannelore-Greve-Preis. Zudem war er Stipendiat der Villa Massimo sowie der Villa Aurora. Zu seinen erfolgreichsten Romanen zählen »Der kretische Gast« (2003), »Sunset« (2011), »Konzert ohne Dichter« (2015) und »Keyserlings Geheimnis« (2018).  Zuletzt erschien »Leonard Cohen« (2020) und der Roman »Fahrtwind« (2021).

2


Der Sonnendunst eines Juninachmittags schimmert über der Stadt. Ein Himmel von blauer Seide, durch den weiße Schäfchenwolken flanieren und sich in den Atelierfenstern der Dachgeschosse spiegeln. Lässiges, hastloses Schlendern auf den Trottoirs, vorbei an Kunst- und Buchhandlungen, Damen- und Herrenausstattern, Antiquitätenläden, Cafés und Wirtshäusern. Eile, Erwerbsgier gar, spielen hier keine Rolle. Maler in von Farbklecksen dekorativ gesprenkelten Samtkitteln, die ihre Mieten schon mal mit Aquarellen begleichen. Erbschaften verzehrende, dem Schlendrian huldigende Lebenskünstler. Modelle der Kunstakademie und andere Mädchen mit unbedenklichen Sitten, die das Leben und die Liebe unbefangen nehmen und geben. Spinnerte Stifter schräger Religionen. Feuilletonisten mit lyrischen Ambitionen und Verbalanarchisten mit christlichem Sendungsbewusstsein. Genialische Musiker. Eifernde Lebensreformer, hagere Vegetarier und braun gebrannte Sonnenanbeter. Kosmogonische Erotiker und entlaufene, von Bildhauern, Dichtern oder verführerisch philosophierenden Sexualethikern umschwärmte höhere Töchter. Wild Gelockte, adrett Gescheitelte. Männer mit langen, zu Zöpfen gebundenen Haaren, Frauen mit männlichen Kurzhaarfrisuren. Samtkappen und breitkrempige Strohhüte, Schotten- und Baskenmützen, Jägerhüte mit Gamsbartschmuck, Hüte mit Blüten und Spitzen, mit Federn von Paradiesvögeln und afrikanischen Straußen. Einig ist man sich nur darin, dass jeder seine Aufmachung selbst bestimmt, geleitet von Eitelkeit, von Bequemlichkeit und manchmal sogar von Stilgefühl. Jede ist sich selbst die Schönste, jeder ist sich selbst der Größte. Ihren Auftritt, ihren Habitus und ihre Kleidung abweichend von der Norm so zu ziselieren, dass etwas Eigenes zu erkennen ist, lassen sich einige so viel Nachdenken kosten, dass darüber schon mancher Roman scheiterte, manch ein Bild ungemalt und die eine oder andere Symphonie unvollendet geblieben ist.

Keyserlings bedächtige, leicht schlurfende Schritte, synkopiert vom Takt des Spazierstocks auf dem Pflaster, harmonieren mit dem gelassenen Rhythmus, der das Schwabinger Lebensgefühl bestimmt. Er nickt vergnügt vor sich hin, fühlt sich wieder einmal in seiner Entscheidung bestätigt, hier seinen Wohnsitz genommen zu haben. Während der Italienreise vor zwei Jahren kamen ihm auch Florenz, Venedig oder Rom verlockend vor. Aber in Venedig müffelten die Kanäle allzu sehr nach Verfall, und Verfall kennt er schon zur Genüge. In Rom war es ihm zu heiß, und nachts zerstachen ihn Millionen Mücken. Und in Florenz hat ihm ein Dieb die Börse aus der Tasche gezogen. Bella Italia, schön und gut, aber München ist ihm gemäßer. Er schreibt ja Deutsch. Seine Romane und Geschichten brauchen deutsche Leser, seine Stücke deutsches Theater und Publikum.

Und Schwabing, diese Hauptstadt des Schlawinertums, passt ihm wie ein maßgeschneiderter Anzug. Schnell hat er Anschluss gefunden. Ein waschechter baltischer Graf und russischer Staatsbürger, der eines Tages wie aus dem Nichts auftaucht! Dazu ein veritabler Poet, dessen DramaEin Frühlingsopfer im vergangenen Jahr auch in München für einiges Aufsehen gesorgt hat. Dass er lieber ein Leben im Geistesadel der Bohemiens und Schlawiner führt, statt seine Güter und Schlösser in Kurland zu verwalten, setzt allem die Krone auf und macht ihn zu einer stillen Attraktion. Märchenhaft reich ist er zwar nicht, aber lieber bescheiden und vornehm als einer der eitlen Parvenüs, die sich in den Cafés der Boheme anbiedern, indem sie sich noch karnevalesker kostümieren als die Maler und Dichter. Er hat es nicht nötig, sich als Künstler zu verkleiden – er inszeniert sich nicht. Ihm reicht es, ein höflicher, stilbewusster, geistreicher Mensch zu sein. Man sucht seine Nähe. Wem er das Du anbietet, fühlt sich geadelt.

Zwei seiner Schwestern führen ihm den Haushalt und engagieren sich ansonsten für die Missionierung der