1. Kapitel
Sechs Monate später.
Er zog seineenglische Kleidung an – Jeans, ein weißes T-Shirt und Cowboystiefel, für die er im Western-Store in Berlin, Ohio, einen Haufen Geld hingeblättert hatte.
Voller Vorfreude trat er aus seinem Schlafzimmer in den dunklen Flur. Er mochte die Heimlichtuerei nicht, die so sehr Teil seines Lebens geworden war, dass er sich dieser Tage kaum noch wiedererkannte. Aber er konnte nicht aufhören damit. Und so hatte er sich schließlich damit abgefunden.
Die Schlafzimmertür seiner Eltern war nur angelehnt; dahinter hörte er seinenDatt schnarchen. Die Tür des Zimmers seiner kleineren Schwestern stand halb offen. Als er vorbeischlich, glaubte er, ihren süßlichen Duft zu riechen. Die Tür seiner älteren Schwester war hingegen seit etwa einem Jahr nachts geschlossen. Pubertät, vermutete er. Auch Mädchen hatten ihre Geheimnisse.
Als er die Treppe hinunterging, machte er sich kaum Sorgen, erwischt zu werden. Er war ja gerade in derRumspringa. In den letzten Monaten hatte er so ziemlich alles getan, wonach ihm der Sinn stand. Seine Eltern stellten sich blind und taub. Er hatte sein erstes Auto gekauft, seinen ersten Whisky getrunken und zum ersten Mal erlebt, wie sich ein Kater anfühlte. Er hatte seine erste Marlboro geraucht, war nachts lange unterwegs und kam nach Hause, wann es ihm passte. All das gehörte bei den Amischen zum Erwachsenwerden – und vielleicht war es sogar der beste Teil. Natürlich gefiel dasMamm undDatt nicht, aber sie hielten den Mund. Gegenüber den Schwestern erfanden sie Ausreden.Euer Bruder arbeitet viel, erzählten sie ihnen. Aber sie beteten für seine Seele.
Im ganzen Haus war es still und dunkel, nur durchs Wohnzimmerfenster fiel Licht herein, zwei graue Rechtecke inmitten endloser Schwärze. Der Geruch von Lampenöl und der Sandwiches mit gebratener Mortadella, die es zum Abendessen gegeben hatte, vermischte sich mit der kühlen Brise, die durch die Fliegengitter der Fenster drang. Als er in die Küche kam, nahm er den Zettel aus der Tasche. Er blieb vor dem Tisch stehen, zog eine winzige Taschenlampe aus der Gesäßtasche, leuchtete damit auf das Stück Papier und las es zum x-ten Mal.
Komm heute Nacht in die Scheune. Du wirst es nicht bereuen. ☺
Sie hatte die Worte mit einem lila Stift geschrieben und auf die is Herzchen gemalt. Beim Anblick des Smileys musste er grinsen. Er konnte es kaum fassen, dass sie endlich nachgeben würde. Nachdem er sie wochenlang bedrängt hatte, nach vielen schlaflosen Nächten voller Verlangen, das ihn oft und mit ungekannter Dringlichkeit überkam, würde sie endlich ihm gehören.
Er durfte keine Zeit verschwenden.
Als er durch die Hintertür nach draußen ging, fiel ihm ein, dass er dummerweise vergessen hatte, sich die Zähne zu putzen. Es war eine schwüle, windige Nacht. Am Himmel leuchteten Tausende Sterne, und im Osten prangte eine gelbe Mondsichel über den Baumkronen. Die wuchtigen Umrisse der Scheune in sechzig Meter Entfernung konnte er gerade noch so erkennen. Als er die Auffahrt überquerte und die Rampe hochging, knirschte der Schotter unter seinen Füßen. Die große Schiebetür stand dreißig Zentimeter weit offen. SeinDatt machte sie immer zu, damit die Füchse und Coyoten nicht über die Hühner herfielen.Sie ist hier, dachte er und wurde von so großer Erregung erfasst, dass seine Beine zitterten und sein Schritt stockte.
Als er durch die Tür trat, stieg ihm der Geruch von Pferden und von frisch geschnittenem Heu in die Nase. In der Scheune war es stockfinster, doch er kannte hier jeden Meter. Er konnte