EINS
Sie war sechzehn. Von den Jungs in ihrer Schule, die sie nicht beim Namen kannten, wurde sie das Mädchen mit der Porzellanhaut genannt. Ihr Haar war tiefdunkel, ihre Taille schmal, und den Blick aus ihren kristallblauen Augen fanden manche aus ihrer Klasse zu rätselhaft, auf andere hingegen übte er einen gewissen Reiz aus.
Es war im Sommer 2003, als sie aus einer spontanen Laune heraus nach der Schule nicht gleich nach Hause fuhr, sondern am Bahnhof Gesundbrunnen die U-Bahn verließ und in die S-Bahn Richtung Bernau umstieg.
Vor Kurzem hatte sie eine Gegend im Umland Berlins entdeckt, die in ihren Augen von beinahe magischer Schönheit war. Idyllisch, still, fernab vom Trubel der Großstadt, der perfekte Ort zum Nachdenken und Alleinsein.
Allein zu sein war ihr besonders wichtig. Weit weg von den anderen. Sie war eben nicht wie die meisten Jugendlichen in ihrer Schule. Sie galt als eher schweigsam, leicht versponnen und in sich gekehrt.
In Berlin-Karow stieg sie in die Regionalbahn. Nach einer etwa zwanzigminütigen Fahrt vorbei an Maisfeldern, Ginsterbüschen und Birkenhainen erreichte sie den Bahnhof Wandlitzsee.
Sie stieg aus, passierte die schmale Ortsstraße. Kaum hatte sie einen asphaltierten Weg hinter sich gelassen, bog sie in den Wald ein.
Kühle umfing sie, schützendes Grün. Hohe Kiefern, dichte Tannen. Sie zog ihre Schuhe aus und ging barfuß weiter. Eine Mönchsgrasmücke sang ihr Lied. Unwillkürlich musste sie lächeln. Sie war so glücklich an diesem Ort. Schon bald blitzte der Liepnitzsee zwischen dem Laub der Bäume auf.
Am Ufer angekommen raffte sie ihr Kleid und tauchte die nackten Füße ins Wasser. Der See war klar, tief, smaragdgrün. Ihre Brust weitete sich, und sie schloss für einen Moment die Augen.
Sie trat aus dem Wasser heraus, bedauerte kurz, dass sie keine Badesachen dabeihatte, streifte die nackten Sohlen an einem von der Sonne gewärmten Stein ab, schlüpfte wieder in ihre Schuhe und ging weiter. Sie schlug den Weg in östlicher Richtung ein und beschloss, den See einmal zu umrunden.
Das Unbehagen begann, als ihr eine merkwürdige Verfärbung des Himmels auffiel. Anfangs hielt sie es für das Abendrot. Was sie irritierte, denn so spät war es doch noch gar nicht. Dann frischte der Wind auf, und sie fröstelte. Sie hatte den Hügel erreicht, von dem aus sich ein prächtiger Blick hinab auf den See bot. Normalerweise wäre sie stehen geblieben, um die Aussicht zu genießen, doch es überkam sie eine diffuse Unruhe, sodass sie ihre Schritte beschleunigte. Als ein Windstoß in die Tannen am Wegesrand fuhr, rauschte es aus der Tiefe des Waldes, und es klang wie ein Raunen an ihren Ohren.
Plötzlich hatte sie das Gefühl, dass jemand dicht hinter ihr wäre, und sie wandte sich erschrocken um.
Der Weg war leer bis auf die Tannennadeln am Boden, die von den Windböen im Kreis herumgetrieben wurden. Si