Wie weit sie unter der Erde waren, wusste Marie nicht. Zuerst waren sie eine eiserne Wendeltreppe hinabgestiegen, die kein Ende zu nehmen schien, dann ging es weiter, eine lange Galerie entlang und unter gemauerten Bögen hindurch, so massiv, als wollten sie die gesamte Stadt von unten stützen. Sie duckten sich unter einem Türsturz hindurch, über dem sie eine Tafel auf Französisch warnte.HALT,HIER BEGINNT DAS REICH DES TODES! Dahinter taten sich riesige Höhlen auf, deren Wände nur schwach beleuchtet waren. Rechts und links waren Gebeine aufgestapelt, säuberlich sortiert nach Schädeln, Ellen, Speichen, Oberschenkelknochen. Jetzt begriff Marie erst, was der Wärter am Eingang gemeint hatte, als er sie ermahnte: »Mais ne mettez rien dans le sac.« Verständnislos hatte sie ihn angeschaut. Da zeigte er auf ihren Rucksack, in dem sie ihr Skizzenbuch verwahrte.
»Gibt’s tatsächlich Leute, die Knochen klauen?«, fragte sie nun Helga, die mit ihr am Fuß einer weiteren Treppe auf Annabel und Marlene wartete.
»Manche fahren sogar extra deswegen her«, erklärte Helga. »Ein Totenkopf auf dem Schreibtisch oder ein Schulterblatt zum Herumzeigen, das ist doch was. Die Herstellung von Gips- oder Plastikpräparaten kostet mehr als der Eintritt hier. Ich könnte mir glatt etwas dazuverdienen, wenn ich meinen Arztkollegen einen echten Knochen als Anschauungsobjekt für die Praxis mitbrächte.« Als sie Maries ernste Miene bemerkte, erstarb ihr Lächeln. »Tut mir leid, war nur Spaß. Auch mir ist die Totenruhe heilig.« Ein kleiner Junge in einem gelben Regenmantel überholte Marlene und Annabel, flitzte auch an Marie und Helga vorbei und rannte juchzend, den Hall ausprobierend, weiter und verschwand in der Finsternis.
»Jetzt lass mich endlich, Mama«, zischte Marlene. Offenbar war es der Zwölfjährigen peinlich, dass Annabel rückwärts vor ihr die Treppe hinunterstieg, um sie aufzufangen, falls sie stürzen sollte. Ans Geländer gestützt, ging Marlene Stufe für Stufe hinunter, festhalten konnte sie sich ohne Arme nur schwer. Als ersten gemeinsamen Ausflug zu viert hätten sie vielleicht besser etwas anderes unternehmen sollen. Von wegen Ablenkung und Vergnügen. Reichlich morbid war es hier unten. Marie hatte sich nichts dabei gedacht, als sie die Katakomben vorschlug. Warum nicht auch das unterirdische Paris erkunden? An einem Ende der Stadt in die verlassenen Steinbrüche eintauchen, für eine Stunde dem Lärm und der Hitze entkommen und an einer ganz anderen Stelle wieder ans Tageslicht steigen, wäre doch lustig. Von wegen! Anscheinend hatte sie das, dem sie eigentlich entkommen wollte, wie ein Magnet angezogen. Nun bereute sie es, die anderen überredet zu haben. Wie herrlich wäre es, oben bei einem Café au Lait in der Sonne zu sitzen oder die Seine entlangzuspazieren, bei den Bouquinisten oder den Künstlern am Montmartre vorbei und gemeinsam den Sommer zu genießen. Stattdessen stiegen sie immer tiefer in die Unterwelt. Von Raum zu Raum wurde Marie unbehaglicher. Sie versuchte, die aufkeimende Beklemmung wegzudrücken. Zum Umkehren war es zu spät, und was vor ihnen lag, konnte schließlich nicht schauriger sein als das, was sie bereits gesehen hatten. Fröstelnd schlüpfte sie in die Strickjacke, die sie um die Hüften gebunden hatte, und knöpfte sie zu. Die vielen Skelettteile ringsum bildeten Ornamente. Vielleicht sollte sie den Anblick festhalten. Zeichnen hatte sie schon immer über alles hinweggerettet. Was sie festhielt, belastete sie nicht mehr. Mit klammen Fingern wollte sie ihren Bleistift aus dem Rucksack holen, da schlossen Annabel und Marlene endlich zu ihr auf. Sie verschob das Skizzieren, lieber gingen sie schnell weiter und brachten diesen Ausflug hinter sich.
»Hört ihr das?« Helga blieb stehen.
Marie lauschte, schüttelte den Kopf. »Was soll sein?« Bis auf das Knistern einer Neonröhre war es still ringsum. Nicht einmal die Schritte und Stimmen der anderen Besucher hörten sie mehr. Kein Husten und Niesen, und auch kein Rufen drang zu ihnen. Vorhin waren sie in einem ganzen Pulk hereingekommen, der