Von allen Geräuschen, die es vermögen, das Grauen anzukündigen, vernahm Cecile Dorm das vermutlich schlimmste. Es war kein heftiges Pochen an der Wohnungstür mitten in der Nacht. So wie letztens, als der Nachbar von schräg gegenüber im Pyjama vor ihrer Haustür gestanden hatte. Friedmann, der sonst nicht einmal grüßte, vermutlich, weil er sich für etwas Besseres hielt, hier in der Villengegend in Westend …die uns eigentlich eine Nummer zu groß ist, Schatz. Findest du nicht? Aber ihr Mann Jonathan mochte es, war hier groß geworden, wenn auch in einem Mietshaus ohne Garten. So gesehen hatten sie es nun in dem renovierungsbedürftigen, aber großzügigen Anwesen besser. Auch wenn es einsamer war als in ihrem Heimatdorf in Mahlow, wo Cecile früher nie schräg angeguckt worden war, wenn sie mal eilig im Jogginganzug, ungeschminkt und mit einem hastig gebundenen Verlegenheitszopf was fürs Frühstück holte. »Ist das nicht die Tante vom Jugendamt? Die Frau vom Nervenarzt? Der holt sich seine Irren nach Hause, heißt es. Ja, er hat jetzt sogar die Praxis vom Dachboden in den Keller verlegt. Ob er in der Klinik rausgeflogen ist? Und das Haus! Nicht mal einen Anstrich können die sich leisten.«
Das hatte ihr Friedmann, der sich seit seiner Pensionierung zu so etwas wie einem Nachbarschaftssheriff aufgeschwungen hatte, sogar einmal ins Gesicht gesagt: »Eine Schande, wie Sie die alte Villa verkommen lassen.« Damals jedoch, als er sie aus dem Schlaf gerissen hatte, war ihm die bröckelige Fassade nicht wichtig gewesen. Barfuß und mit einem nicht funktionierenden Telefon in der Hand stand er vor ihnen.
»Sie sind doch Arzt«, hatte er flehentlich zu Jonathan gesagt. »Bitte, mein Enkel erstickt!«
Der Vierjährige, den die Friedmanns für ihre Tochter babysitteten, hatte einen Pseudokrupp-Anfall erlitten. Cecile wickelte den Kleinen einfach in eine Decke und trug ihn nach draußen. Sein spastischer Hustenkrampf hatte sich schnell gelöst.
Jetzt hingegen war es kein ersticktes Röcheln, das Ceciles Herz dazu brachte, ihr gegen die Rippen zu schlagen wie ein Basketball aufs Turnhallenlinoleum. Auch kein Hupen, gefolgt von quietschenden Autoreifen, das sich rasend schnell auf sie zubewegte. Weder das Bersten von Fensterglas im Wohnzimmer, während sie nachts im Bett lag, noch das helle Knacken eines Knochens beim Aufprall nach einem Sturz. Das Geräusch, das sie so sehr ängstigte, war weit schlimmer als all das. Es kam direkt aus der Wiege, in die sie die kleine Selma zum Schlafen gelegt hatte. Das Geräusch war Stille. Nichts als absolute, erbarmungslose Stille.
Von dieser beängstigenden Ruhe war Cecile geweckt worden. Nur für einen kurzen Moment hatte ihre Erschöpfung die Oberhand gewonnen über das Beschützertier, das seit Neuestem in ihr wohnte. Die Bärenmama, die ihr Junges nicht für einen Augenblick aus den Augen lassen wollte, hatte versagt und war mit der Milchpumpe in der Hand auf dem Sofa eingeschlafen. Und das lag nicht einmal daran, dass Nachtruhe und Durchschlafen seit nunmehr sechs Wochen nicht mehr als entfernte Erinnerungen für sie waren. Nachts war sie alle zwei Stunden aufgestanden, um ein Fläschchen zuzubereiten, weil das wenige, das aus ihren Brüsten in die Pumpe tropfte, nicht einmal ein Mäusebaby hätte satt machen können. Einmal hatte Jonathan angeboten, ihr zu helfen, hatte mit schläfriger Hand und geschlossenen Augen müde nach ihr getastet, doch sie hatte abgewinkt. Er brauchte seinen Schlaf für die Patienten. Musste ausgeruht sein, durfte keine Fehler machen. Gerade jetzt, da er sich endlich – nach über einem Jahrzehnt als Arzt und Psychotherapeut in verschiedenen Berliner Kliniken – selbstständig gemacht hatte. Die Depressions-, Essstörungs- und Panikpatienten, die ihn hier zu Hause in seiner Praxis aufsuchten, hätten kein Verständnis dafür, wenn er es Cecile gleichtat und während einer der Therapiesitzungen einschlief. Wobei es aber gar nicht das Baby gewesen war, das Cecile in der vergangenen Nacht so beschäftigt hatte – in den zwei Stunden zwischen den Fläschchen, die sie Selma anreichte und während derer sie nur schwer zurück in den Schlaf finden konnte. Es war die Tatsache, dass si