: Wolfram Hänel
: Rollator Blues Vielleicht muss man ja doch nicht sterben ...
: zu Klampen Verlag
: 9783866749528
: zu Klampen Literanover
: 1
: CHF 15.90
:
: Erzählende Literatur
: German
: 456
: Wasserzeichen
: PC/MAC/eReader/Tablet
: ePUB
Too old to rock 'n' roll, too young to die - ein Roadtrip mit dem Soundtrack der Siebziger! Fast fünfzig Jahre ist es her, dass Kurt Appaz und seine Freunde gleich nach dem vermasselten Abitur in einem VW-Bus an die französische Atlantikküste gefahren sind. Sie wollten ihre Freiheit auskosten und später mal ein ganz anderes Leben führen. Die Träume von damals haben sich nicht erfüllt, alles ist anders gekommen, als sie sich erhofft hatten. Aber sie haben ihre Träume nicht vergessen - und so wollen die Fünf sich und dem Rest der Welt beweisen, dass da noch was geht. Wieder geht es mit einem VW-Bus zum Atlantik, auf derselben Route wie 1975. Doch die Zeit lässt sich nicht zurückdrehen, nichts ist mehr so, wie es war. Es sind nicht nur die Macken und Verschrobenheiten, die mit dem Alter stärker geworden sind, sondern auch die kleinen und großen Geheimnisse, die jeder mit sich herumschleppt. Die sorgsam errichteten Fassaden bekommen Risse, die sich nicht mehr verbergen lassen, und die Reise bringt so manches ans Tageslicht, mit dem keiner gerechnet hat. Aber bei allen Pannen und Enttäuschungen finden sie schließlich doch einen Weg für sich - es ist noch lange nicht vorbei, eigentlich fängt sogar alles gerade erst an. Die Fortsetzung der 70er-Jahre-Hannover-Romane »Der Junge, der mit Jimi Hendrix tanzte« und »1975« sowie der Abschluss der Kurt-Appaz-Reihe.

Wolfram Hänel, Jahrgang 1956, hat Germanistik und Anglistik an der FU Berlin und der Uni Hannover studiert. Er lebt und schreibt zusammen mit der Dramaturgin Ulrike Gerold am Stadtrand von Hannover. Neben mehreren Theaterstücken haben sie über 150 Bücher veröffentlicht, die in insgesamt dreißig Sprachen übersetzt wurden. Gerold und Hänel sind Mitglieder im PEN-Zentrum. Bei zu Klampen veröffentlichten sie »Kein Erbarmen« (2012) und »Haarmanns Erbe« (2015).

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»Sea and Sand«
The Who

Kurt saß in dem einzigen geöffneten Café an der Kurpromenade und starrte durch das Fenster aufs Meer. Mit den schmierigen Fingerabdrücken auf der Scheibe wirkten die ausrollenden Wellen wie verschwommen, unwirklich, wie aus einer anderen Welt. Als er sich ein Stück nach rechts beugte, war es besser. Auf dem Geländer an der Treppe zum Strand hinunter hockten dicht nebeneinander ein paar Möwen, die plötzlich ohne erkennbaren Anlass aufflogen und sich vom Wind davontragen ließen. Das Geländer war rostzerfressen, große Placken abgeblätterter Farbe waren über die gesamte Promenade verstreut.

Aus der billigen Lautsprecherbox über dem Fenster dudelte leise Schlagermusik. Kurt meinte, einen Song von Andrea Berg zu erkennen, war sich aber nicht sicher. Außer ihm war nur noch ein altes Rentnerehepaar im Café, das an dem Tisch neben der Tür zum Klo Schwarzwälder Kirschtorte in sich hineinschaufelte. Viel älter als ich werden sie wahrscheinlich gar nicht sein, korrigierte er seinen ersten Eindruck und fragte sich, was wohl die Bedienung von ihm dachte, die bis eben gelangweilt in einer Illustrierten geblättert hatte. Bis Kurt mit einem Handzeichen zum Tresen hinüber einen weiteren Cognac orderte.

Drei Cognacs hatte er mittlerweile schon intus, und er merkte, wie ihm langsam schwindlig wurde. Außerdem war ihm schlecht, er mochte keinen Cognac. Er wusste auch nicht zu sagen, wann er jemals freiwillig welchen getrunken hätte! Das Zeug schmeckte wie Seife. Und der stechende Geruch erinnerte ihn schon die ganze Zeit an die Herrenabende zu Hause bei seinen Eltern, wenn sein Vater die Kollegen aus dem Büro zu Gast hatte und seine Mutter in der Küche liebevoll kleine Häppchen zubereitete. Graubrot mit Mettwurstscheiben und einem Zahnstocher, auf den eine Weintraube oder ein Käsewürfel geschoben waren. Manchmal nahm sie statt des Zahnstochers auch kleine, bunte Papierflaggen. Am besten hatten ihm immer die Fahnen aus den skandinavischen Ländern gefallen, sein Vater war im Krieg in Norwegen und Finnland gewesen.

Er hätte gerne geraucht, aber es war ihm zu anstrengend, jetzt extra vor die Tür zu gehen, und er hatte auch gar keinen Tabak mehr. Bei den Herrenabenden war es immer seine Aufgabe gewesen, schnell zum nächsten Zigarettenautomaten zu rennen, wenn wieder eine Schachtel leergeraucht war. HB und Ernte 23 waren die Lieblingssorten der allesamt kettenrauchenden Kollegen, daran erinnerte er sich noch genau. Wer wird denn gleich in die Luft gehen? Greife lieber zur HB – dann geht alles wie von selbst. Und ein Päckchen kostete eine Mark. Oder eine Mark zwanzig?

Verdammt lang her, dachte er. Und ärgerte sich im selben Moment über die Assoziation, die der Gedanke bei ihm auslöste. Er hatte BAP nie gemocht, und Niedecken schon gar nicht! Was aber wahrscheinlich weniger an Niedecken und seiner Band lag, als vielmehr an der Tatsache, dass er immer schon schnell damit gewesen war, genau das abzulehnen, wovon ihm zu viele Leute vorschwärmten. BAP.Die Asche meiner Mutter. Kill Bill. Helge Schneider. Hape Kerkeling. UndToni Erdmann! WobeiToni Erdmann nun wirklich saublöd gewesen war. Und bei BAP hatte er zumindest nie kapiert, wie jemand ausgerechnet auf Kölsch singen konnte – und dann auch noch dafür gefeiert wurde, dass kein Mensch etwas verstand!

Aber trotzdem, eswar verdammt lang her, daran war nicht zu rütteln. Und er selber war heute schon deutlich älter, als sein Vater damals gewesen war, wenn sie jedes Jahr in der Vorsaison ans Meer fuhren, weil da die Preise noch nicht ganz so horrende waren, und nach einem langen Tag am Strand in die Pension zurückkehrten, wo sein Vater vor dem Abendessen schnell noch eine