: Alexander Grau
: Anne Hamilton
: Entfremdet Zwischen Realitätsverlust und Identitätsfalle
: zu Klampen Verlag
: 9783866749542
: zu Klampen Essays
: 1
: CHF 10.70
:
: Essays, Feuilleton, Literaturkritik, Interviews
: German
: 128
: Wasserzeichen
: PC/MAC/eReader/Tablet
: ePUB
Der Begriff der Entfremdung, ursprünglich ein Grundpfeiler marxistischer Theorie, ist in den vergangenen Jahrzehnten aus der Mode gekommen. Zu Unrecht. In einer Gesellschaft, in der Selbstfindung und Selbstsuche religiösen Status erlangt haben, persönliche Befindlichkeiten einen höheren Stellenwert genießen als wissenschaftliche Erkenntnis und in der mit individuellen Abneigungen und Vorlieben Politik betrieben wird, erscheint dieser Begriff aktueller denn je. Der vorliegende Essay untersucht die verschiedenen Ausformungen des entfremdeten Lebens und geht seinen sozialen, technischen und ideologischen Ursachen auf den Grund. Das Ergebnis ist die schonungslose Analyse einer Gesellschaft zwischen Realitätsverlust, Identitätswahn und Hybris.

Alexander Grau, geboren 1968, arbeitet seit 2003 als freier Publizist, Kultur- und Wissenschaftsjournalist. Er schreibt regelmäßig für Zeitungen und Zeitschriften, u. a. für die »Neue Zürcher Zeitung« und den »Cicero«, und hat mehrere Bücher veröffentlicht.

I. Einleitung


DIE Suche nach dem eigenen Selbst ist der Kult unserer Zeit. Ganze Industrien leben davon. Unser Alltag ist darauf ausgerichtet. Der Wohlstandsbürger der westlichen Welt klettert im Hochgebirge, trekkt durch Thailand, bewandert Pilgerpfade, meditiert in Klöstern, verausgabt sich beim Triathlon oder nimmt ein Sabbatical – nur um sich endlich irgendwo selbstzufinden.

Doch er findet sich nicht. Nicht auf den Gipfeln des Himalaya. Nicht beim Apnoetauchen. Und auch nicht beim Hatha-Yoga. Denn der empfundene Selbstverlust ist weder durch Urlaubsreisen noch durch die neuste Trendsportart zu überwinden, sondern gründet in der Verfasstheit moderner Gesellschaften. Die großen Erzählungen haben ausgedient. Die Götter sind tot. Und der Blick nach innen entlarvt eine große Verunsicherung, die durch Erlebnisse und Events zumindest teilweise kaschiert werden soll. Allerdings machen auch die aufregendsten oder exotischsten Erfahrungen das Leben kein bisschen stabiler. Ein Urlaub auf Bali gibt ihm nicht mehr Orientierung als ein paar Tage in der Eifel. Die Verwertungslogik der Massenkonsumgesellschaft ist nicht in der Lage, jene Wunden zu heilen, die sie geschlagen hat.

Groteskes Symbol dieser Entfremdungstendenzen ist das Selfie. Tief verunsichert fotografiert sich der Narzisst der Spätmoderne pausenlos selbst, um sich seiner eigenen fragilen Existenz zu versichern. Euphorisch klammert sich das orientierungslose Ich an sein digitales Abbild. Und weil einem verunsicherten Selbst sogar das eigene Bild als Beweis seiner Existenz nicht ausreicht, stellt es sein Portrait in soziale Netzwerke. Seht ihr mich? Bin das ich? Wie bin ich?

Beklagten vergangene Generationen noch die Verdinglichung des Menschen durch die Gesellschaft, so macht der Mensch unserer Gegenwart sich freiwillig zum Objekt. Nur als Ding, als Ware unter Waren im globalisierten Austausch der Güter fühlt er noch einen Rest an Geborgenheit.

Die allerdings wird im Spiel der immer neuen Moden in Frage gestellt. Jeder ist dazu aufgerufen, sich permanent neu zu erfinden, neue Identitäten und Lebensstile zu entwerfen. Sich ein Leben lang treu geblieben zu sein, wird zum Anachronismus. Gestalten der Popindustrie, deren Marketingkonzept der permanente Imagewandel ist, werden medial zu Vorbildern stilisiert. Der Zustand der Selbstentfremdung wird zum eigentlichen Identitätskonzept.

Entsprechend beginnen spätmoderne Gesellschaften, diesen Identitätsverlust als angeblichen Emanzipationsgewinn zu feiern. Herkömmliche Bindungen werden im Gegenzug diskreditiert. Herkunft, Abstammung und Tradition erscheinen als emanzipationsfeindlich. Geschlechter und Geschlechtsrollen werden in Abrede gestellt. Bewährte Identitätskonzepte gelten als politisch fragwürdig.

Doch der Mensch braucht eine Identität. Auch wenn er meint, man müsse sie um der Selbstfindung willen überwinden. Er findet sie in persönlichen Neigungen, Interessen und Lifestylepräferenzen. In der Folge differenziert sich die Gesellschaft zunehmend in Subkulturen und Submilieus aus, die ihren jeweiligen M