: Friedrich Dürrenmatt
: Politik Essays, Gedichte und Reden
: Diogenes
: 9783257612165
: 1
: CHF 10.00
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: Essays, Feuilleton, Literaturkritik, Interviews
: German
: 208
: Wasserzeichen
: PC/MAC/eReader/Tablet
: ePUB
»Sätze für Unterdrückte: Sage jedem, was du nicht denkst. Versuche, wenigstens anständig auf den Hund zu kommen. Das Gift im Haus erspart den Henker. Auch mit dem Hut in der Hand kommt man in ein Konzentrationslager. Zeuge keine Kinder.«'

Friedrich Dürrenmatt wurde 1921 in Konolfingen bei Bern als Sohn eines Pfarrers geboren. Er studierte Philosophie in Bern und Zürich und lebte als Dramatiker, Erzähler, Essayist, Zeichner und Maler in Neuchâtel. Bekannt wurde er mit seinen Kriminalromanen und Erzählungen ?Der Richter und sein Henker?, ?Der Verdacht?, ?Die Panne? und ?Das Versprechen?, weltberühmt mit den Komödien ?Der Besuch der alten Dame? und ?Die Physiker?. Den Abschluss seines umfassenden Werks schuf er mit den ?Stoffen?, worin er Autobiografisches mit Essayistischem verband. Friedrich Dürrenmatt starb 1990 in Neuchâtel.

1968

Meine Damen und Herren,

ich denke an die Tschechoslowakei. Ich denke an Prag. Ich denke an eine Bevölkerung, die hoffnungsvoll war und jetzt hoffnungslos ist. Ich denke an meine Freunde dort. Ich denke an Schauspieler, Regisseure, Bühnenbildner, Dramaturgen, Übersetzer. Ich denke an Schriftsteller, und ich denke an Kommunisten. An bestimmte Kommunisten. Ich denke an ein Gespräch mit dem österreichischen Kommunisten Ernst Fischer, und ich denke an ein Manuskript des Kommunisten Konrad Farner, der sich mit jener Kenntnis mit dem Christentum auseinandersetzt, die ich denen wünsche, die sich mit dem Kommunismus auseinandersetzen. Über das Schicksal vieler Prager Freunde weiß ich nichts. Ernst Fischer gilt für die Russen als einer der schlimmsten Ketzer und Konrad Farner für einige Schweizer als Landesverräter. Ich bin stolz auf ihn. Die Schweiz wäre noch ärmer ohne ihn, und weil sie ihn nicht zur Kenntnis nimmt, ist sie ärmer als sie zu sein brauchte. Er hat das Pech, in einem Land zu leben, das die Zufriedenheit mit sich selbst zum politischen Kult macht. Kommunist ist ein Ehrenname, nicht ein Schimpfwort, die Prager Kommunisten beweisen es, und wir können den Mut dieser Männer nur dann ehren, wenn wir aus unserer Manifestation nicht eine antikommunistische Manifestation machen. Ich bin kein politischer, ich bin ein dramaturgischer Denker, ich denke über die Welt nach, indem ich ihre Möglichkeiten auf der Bühne und mit der Bühne durchspiele, und mich ziehen demgemäß die Paradoxien und Konflikte unserer Welt mehr an als die noch möglichen Wege, sie zu retten. Ich bin Diagnostiker, nicht Therapeut, und doch glaube ich, keiner Berufsdeformation zu erliegen, wenn ich unser Zeitalter als das der politischen Verbrecher bezeichne. Der Erste und der Zweite Weltkrieg, der Faschismus und Neofaschismus, der Stalinismus, Ungarn, Tibet, der Klan um Tschiang Kai-schek, der Krieg derUSA in Vietnam, die politischen Morde in denUSA und anderswo, die Genozide, Israel, Biafra und jetzt die Okkupation der Tschechoslowakei; die Liste der politischen Verbrechen, durch Politiker verübt, ist damit nicht abgeschlossen, nur angedeutet. Dagegen wird protestiert, dagegen wird geschrieben, geredet und geschrien, dagegen wird Geld gesammelt, und viele, die dagegen sind, werden verprügelt, verhaftet, ja ermordet, doch alle diese Proteste haben etwas Kultisches. Sie verhindern die kriminellen Fakten nicht, sie geschehen nachträglich, aus einem Gefühl der Ohnmacht heraus, um wenigstens etwas zu tun, irgend etwas; auch geschieht Widersinniges: Leute, die einst schrien »lieber tot als rot«, schreien jetzt »Dubček, Svoboda«. Wenn ich darum heute als Schriftsteller im Theater, dessen Team ich angehöre, das Wort ergreife, so nicht, um zu protestieren, sondern um zu analysieren. Ein Protest ist eine Sache der E