: Siegfried Geyer, Sveja Eberhard
: Später krank und länger gesund? Die Morbiditätskompression und ihre Alternativen
: Hogrefe AG
: 9783456759678
: 1
: CHF 33.10
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: Allgemeines
: German
: 206
: Wasserzeichen
: PC/MAC/eReader/Tablet
: ePUB
In den letzten 30 bis 40 Jahren hat sich die Lebenserwartung der Menschen deutlich erhöht und im Gegensatz zu den Jahrzehnten davor ist dies auf Entwicklungen im höheren Lebensalter zurückzuführen. Wie verbringen die Menschen die gewonnenen Lebensjahre - im Zustand von Krankheit und Behinderung oder in Gesundheit? Die These der Morbiditätskompression formuliert eine optimistische Vision. Demnach steigt durch gesündere Lebensweisen, durch erfolgreiche primäre Prävention und durch Verbesserung der medizinischen Versorgung die Lebenszeit, die bei guter Gesundheit für Aktivitäten genutzt werden kann. Anhand vorliegender Studien wird anschaulich erklärt, wie sich gesundheits- und sozialpolitische Konsequenzen entwickeln. Dabei sind die Lebensumstände wichtig, in denen Menschen 'altern', d.h. welche Faktoren sich positiv oder negativ auf eine Morbiditätskompression auswirken. Auch das Geschlecht und Bildungstand scheinen hier eine große Rolle zu spielen.

|9|Vorwort


„Die Deutschen werden immer älter“ ist ein ebenso zutreffender wie häufig geäußerter Allgemeinplatz, der oft mit der Warnung verknüpft wird, dass eine älter werdende Bevölkerung immer kränker, behandlungs- und pflegebedürftiger werde, was in der Folge zu enormen Kosten führe und nicht zuletzt die Systeme der sozialen Sicherung bedrohe. Doch stimmt diese Annahme? Bedeutet eine steigende Lebenserwartung, dass immer mehr Menschen gleichzeitig krank und pflegebedürftig sein werden? Werden wir nicht eher deshalb immer älter, weil wir auch gesünder sind? Grundsätzlich nimmt mit dem Lebensalter das Risiko von Erkrankungen zu, das heißt jedoch nicht, dass sich dieses Risiko des Auftretens von Krankheiten nicht über die Jahre verändern kann. Dies gilt insbesondere dann, wenn die Lebenserwartung von Menschen ansteigt, wie es in Deutschland und in anderen Industrieländern der Fall ist. Daraus ergibt sich die Frage, wie sich bei einer verlängerten Lebensspanne die Zeiten entwickeln, die im Zustand von Krankheit und Behinderung verbracht werden.

Antworten darauf soll dieses Buch geben. Wir werden uns mit der Frage beschäftigen, ob ein längeres Leben mit längeren Zeiten des Leidens einhergeht oder ob ein längeres Leben eine Ausweitung gesunder Lebenszeit bedeutet. In den 1970er- und 1980er-Jahren wurden dazu drei konkurrierende Hypothesen formuliert, die aber erst in den letzten Jahren im Kontext des demografischen Wandels größeres Interesse gefunden und Forschung angeregt haben.

Im Jahr 1977 formulierte der Psychiater und Epidemiologe Ernest Gruenberg seine These der Morbiditätsexpansion [1]. Demnach steigt als Konsequenz verbesserter medizinischer Behandlungsmöglichkeiten zwar die Länge des Lebens an, jedoch werden nur Jahre im Zustand von Krankheit und Behinderung gewonnen, weil viele Erkrankungen nicht geheilt, sondern nur behandelt werden können. Als Gegenmodell gilt die von James Fries formulierte These der Morbiditätskompression, die vor dem Hintergrund verbesserter Prävention und gesundheitsförderlicher Lebensweisen ebenfalls von einer verlängerten Lebensspanne ausgeht, die jedoch im Zustand guter Gesundheit verbracht wird. Mit dem Gewinn gesunder Lebensjahre würde sich die Zeit zwischen dem Eintritt von chronischer Krankheit und|10|Behinderung und dem Tod verkürzen – also komprimieren [2]. Einen Mittelweg formulierte Kenneth Manton 1982. Er ging davon aus, dass sich zwar die Zeiten verlängern werden, die Menschen im Zustand von Krankheit und Behinderung verbringen, dennoch trügen Fortschritte der Medizin dazu bei, dass sich die Qualität des Lebens verbessert und dass es somit trotz Krankheit immer besser möglich sei, aktiv am Alltagsleben teilzunehmen [3].

In den folgenden Kapiteln werden wir vor dem Hintergrund dieser drei Thesen versuchen, die Frage nach der Entwicklung der Morbidität zu beantworten. Dabei werden wir nicht „die Gesundheit“ allgemein in den Blick nehmen, sondern versuchen, differenzierte Antworten zu geben und am Ende alle Teilbefunde zusammenzuführen. Nach einem ersten Überblick über die Thematik werden die Entwicklungen der häufigsten Erkrankungen über die Zeit betrachtet. In einem weiteren Schritt werden die Entwicklungen von Beschwerden und Behinderungen sowie die Bedeutung subjektiver Gesundheitseinschätzungen betrachtet, die sich nicht mit Diagnosen erfassen und bezeichnen lassen. Wir werden dann in diesem Zusammenhang auf die Rolle der kognitiven Leistungsfähigkeit eingehen und abschließend Anwendungsmöglichkeiten der Untersuchungsergebnisse zur Entwicklung von Morbidität diskutieren. Die Ergebnisse haben eine nicht unerhebliche Bedeutung für zentrale Themen der Sozial- und Gesundheitspolitik. Dies bezieht sich zum Beispiel auf Fragen, wie sich die Kosten für die gesundheitliche Versorgung künftig entwickeln werden, wie wir künftig im Alter wohnen wollen (und können), ob es einen veränderten Bedarf für Altenheime geben wird, wie sich Pflegebedürftigkeit entwickeln wird und – nicht zuletzt – ob das Renteneintrittsalter verändert werden kann.

Um ein möglichst umfassendes Bild zu zeichnen, werden wir Ergebnisse betrachten, die in nationalen und internationalen Studien zum Thema Morbiditätskompression erarbeitet wurden. Der Schwerpunkt liegt aber auf den Ergebnissen eines eigenen Forschungsprojekts zum Thema Morbiditätskompression, das in der Medizinischen Soziologie der Medizinischen Hochschule Hannover (MHH) in Kooperation mit der AOK Niedersachsen begonnen wurde und noch einige Zeit laufen wird. Es wurde mit dem Ziel gestartet, für die häufigsten Erkrankungen, für Multimorbidität sowie für alltägliche Beeinträchtigungen zu untersuchen, ob sich deren Entwicklung über die Zeit als Kompression, Expansion oder als dynamisches Gleichgewicht beschreiben lässt. Das Projekt kann nicht das gesamte Thema mit all seinen Aspekten abdecken, deshalb wird auch auf Studien anderer Forscherinnen und Forscher Bezug genommen. Dies bezieht sich insbesondere auf die subjektiv eingeschätzte Gesundheit, auf Demenz, Pflegebedürftigkeit sowie auf die kognitiven und mentalen Aspekte der drei Varianten der Morbiditätsentwicklung.

Dieses Buch ist in erster Linie für eine informierte Öffentlichkeit geschrieben, der das Wissen über die langzeitliche Entwicklung von Erkrankungen in zugänglicher Form präsentiert werden soll, ohne die wissenschaftliche Genauigkeit zu ver|11|nachlässigen. Es handelt sich bei den hier behandelten Fragen um teilweise kontrovers diskutierte Themen, die für die Weiterentwicklung unserer Sozialsysteme von großer Bedeutung sind. Wenn das hier präsentierte Wissen nur auf die enge Wissenschaftlergemeinde beschränkt bliebe, würde es möglicherweise lange dauern, bis die Übersetzungsarbeit geleistet wird.

Ein solches Projekt kann nicht ohne externe Förderung durchgeführt werden. Die AOK Niedersachsen (AOKN) stellte von Beginn an eine finanzielle Förderung zur Verfügung. Dadurch wurde es möglich, erste Ergebnisse zu erarbeiten und neue, teilweise experimentelle Herangehensweisen zu entwickeln, auszuprobieren und anzuwenden, da sich für das wissenschaftliche Arbeiten mit Routinedaten noch kein Methodenkanon entwickelt hat, auf den umstandslos zurückgegriffen werden kann. In der Forschungsgruppe Morbiditätskompression wurden Indikatoren entwickelt, ausprobiert, lange diskutiert und wieder verworfen, bis sich ein Satz von Indikatoren und Techniken herausgebildet hatte, die schließlich zu Routineprozeduren wurden. Es muss nochmals herausgehoben werden, dass ein großer Teil dieser Arbeiten mit den klassischen Förderinstrumenten nicht möglich gewesen wäre, weil mangels Vorerfahrungen der Beginn vieler Arbeiten mehr als Versuch und Irrtum beschrieben werden kann, und der Ausgang dieses Probierens war auch offen. Insbesondere Dr. Jürgen Peter als Vorstandsvorsitzender der AOKN hat die Forschungsgruppe kontinuierlich unterstützt, durch seine Bereitschaft zur Diskussion der Ergebnisse Anregungen gegeben und uns ermutigt, sie einer breiteren Öffentlichkeit zur Verfügung zu stellen. Der Start kam 2015 mit einem öffentlichen Vortrag im Leibnizhaus Hannover, im Rahmen dessen das Projekt einer interessierten Öffentlichkeit vorgestellt wurde. Im Verlauf des Jahres 2019 wurden die Projektergebnisse mit dem Personalrat der Medizinischen Hochschule und später mit Gewerkschaftlerinnen und Gewerkschaftlern diskutiert, um mögliche praktische Anwendungen auszuloten. Weitere Diskussionen mit Akteuren außerhalb der Wissenschaft sind in Vorbereitung.

Die im vorliegenden Buch berichteten Forschungsergebnisse basieren wesentlich auf der Kreativität und Beharrlichkeit der Forschungsgruppe Morbiditätskompression, die aus einem inneren und einem weiteren Kreis besteht. Dies sind insbesondere Jelena Epping, die den methodischen und Datenteil des Projekts betreut, und Juliane Tetzlaff, die ihre demografische Expertise und Methodik ins Projekt eingeführt und die Arbeiten zur Multimorbidität durchgeführt hat. Stefanie Sperlich hat ihre Expertise zu subjektiv messbaren Gesundheitsmaßen eingebracht, Jona Stahmeyer vertritt die Gesundheitsökonomie und verbreitert die thematische Basis des Projekts. Denise Muschik hat im Rahmen eines Promotionsstipendiums des Landes Niedersachsen die Studien zur Morbiditätsentwicklung bei Diabetes Typ 2 durchgeführt, und Johannes Beller brachte seine Kenntnis komplexer statistischer Verfahren mit. Neben diesen Mitgliedern...