: Jostein Gaarder
: Ist es nicht ein Wunder, dass es uns gibt? Eine Lebensphilosophie
: Carl Hanser Verlag München
: 9783446278813
: 1
: CHF 15.20
:
: Gegenwartsliteratur (ab 1945)
: German
: 160
: Wasserzeichen
: PC/MAC/eReader/Tablet
: ePUB
Bestsellerautor Jostein Gaarder über das Wunder der Erde und des Lebens. Eine inspirierende Lebensphilosophie, die zum Nachdenken anregt - und ein kurzweiliges Leseerlebnis
30 Jahre nach der Veröffentlichung von 'Sofies Welt' widmet sich Bestsellerautor Jostein Gaarder seiner ganz eigenen Lebensphilosophie, als Brief an seine Enkel. Dabei verknüpft er Erfahrungen und Erlebnisse aus seinem Leben mit Themen, die ihn schon immer beschäftigt haben, wie Natur, Nachhaltigkeit, Klimawandel, Religion, Liebe, Leben, Tod und das Wunder unserer Existenz. Und er setzt sich intensiv mit Fragen auseinander, die die Zukunft seiner Enkel betreffen. Die wichtigste: Wie kann es uns gelingen, die menschliche Zivilisation und die Lebensgrundlage auf unserem Planeten zu bewahren? Ein neugieriger und kluger Blick auf das Privileg, auf dieser Erde zu leben.

Jostein Gaarder, 1952 in Norwegen geboren, studierte Philosophie, Theologie und Literaturwissenschaften. Er war lange Philosophielehrer und lebt heute als freier Schriftsteller in Oslo. Sein Roman Sofies Welt (1993) wurde in über 50 Sprachen übersetzt. Zuletzt erschienen von ihm Ein treuer Freund (Roman, 2017) und Genau richtig (2019). 2023 folgt Ist es nicht ein Wunder, dass es uns gibt? Eine Lebensphilosophie.

eine Zauberwelt


Ich bin in einer Gegend aufgewachsen, die einmal ein funkelnagelneuer Vorort von Oslo war. Tonsenhagen heißt dieser Stadtteil, und ich bin mit drei oder vier Jahren dort hingezogen. Etwa zehn Jahre habe ich dort gewohnt, und aus diesen Kindertagen in der Satellitenstadt habe ich eine Reihe klarer, aber unzusammenhängender Bilder behalten, die wie aus der Tiefe eines dunklen Kaleidoskops aufsteigen.

Eines dieser Fragmente werde ich euch jetzt zeigen, es ist eine meiner deutlichsten Erinnerungen.

Einmal, mitten am Tag, vielleicht war es ein Sonntag, sah ich wie in einem Schock die Welt sozusagen zum ersten Mal. Es war, als hätte ich die Augen in einer Zauberwelt aufgeschlagen. Der Gesang der Vögel klang plötzlich wie Flöten und Glas. Auf den Straßen spielten die Kinder auf eine fast verklärte Weise. Alles war Märchen, Wunder. Und hier war ich. Ich befand mich auf der Innenseite eines tiefen, ergreifenden Geheimnisses, in einem Rätsel, das niemand lösen konnte, war darin eingekapselt, als hätte ich mich in eine andere Wirklichkeit verirrt, in eine andere Blase, ein bisschen wie bei Schneewittchen oder Aschenputtel. Rapunzel. Rotkäppchen.

Der Zauber war nur von sehr kurzer Dauer, aber der süße Schock steckte mir noch lange in den Knochen, und er hat mich seither nie mehr ganz losgelassen.

Innerhalb dieser wenigen Sekunden wusste ich zum ersten Mal, dass ich sterben würde. Das war der Preis dafür, dass ich auf der Welt war.

Ich befand mich hier in einem Märchen, und das war ein wunderbares Gefühl, wie die Erfüllung eines unmöglichen Wunsches. Aber auf dieser Welt war ich nur zu Besuch. Dieser Gedanke war unerträglich. Dass ich hier nicht zu Hause war, dass ich keine feste Bleibe besaß.

Ich hatte nur eine lose Verbindung zu dieser Welt, und die nur für kurze Zeit. Für mein kurzes Dasein.

Ich war allein auf der Welt, wie man allein in einem Traum ist. Wenn der Traum von anderen besucht wird — in Gastrollen des Traumes —, bleiben wir trotzdem uns selbst überlassen. Seelen fließen nicht ineinander, sie fließen nur — nebeneinander.

Etwas von dieser schläfrigen Distanz zu anderen Menschen spürte ich manchmal auch, wenn ich wach war. Und dennoch: Ich musste jemandem von dem erzählen, was ich erlebt hatte.

Aber ich versuchte das nicht bei meinen Freunden. Wie hätte ich denen das erklären sollen?

Auf dem Schulweg sprachen wir über Juri Gagarin — der im Weltraum gewesen war! —, über die Pferde auf der Trabrennbahn Bjerke oder über die Olympischen Winterspiele in Innsbruck … Wenn wir einen Geigerzähler gehabt hätten, glaubten wir, hätten wir eine Menge Uran finden und steinreich werden können … und falls ein Rolls-Royce eine Panne hätte, würde sofort ein Hubschrauber mit Mechanikern angeschwebt kommen, um die Luxuskarre an Ort und Stelle zu reparieren …

Ich konnte meinen Kumpels nicht anvertrauen, dass ich es »sonderbar« fand zu leben oder dass ich, ein gesunder Junge von elf oder zwölf, Angst vor dem Sterben hatte. Das hätte gegen unseren üblichen Jargon verstoßen, der ziemlich vorhersagbar war. Hier durfte kein Scheiß gebaut werden!

Also ging ich zu Lehrern und Eltern. Die mussten doch ein tieferes Verständnis für das haben, was mit Leben und Tod zu tun hatte. Die waren docherwachsen!

Ich versuchte, sie herauszufordern. Ist es nicht sonderbar, dass wir leben?, fragte ich. Ist es nicht sonderbar, dass es diese Welt gibt? Oder dass es überhaupt etwas gibt?

Aber die Erwachsenen waren leerer als Kinder. Sie waren jedenfalls leerer, als ich mich selbst fühlte. Das musste daran liegen, dass sie aus diesen Fragenherausgewachsen waren.

Sie sahen mich an, als ob ich selbst sonderbar wäre.

Warum sagten sie nicht einfach Ja? Ja, es ist wirklich eine sonderbare Vorstellung, dass wir leben, hätten sie sagen können. Sie hätten sogar zugeben können, dass es ein bisschen mystisch war. Oder total wahnsinnig, verrückt! Aber soweit ich sehen konnte, fanden sie es nur peinlich, mit meinen Fragen konfrontiert zu werden. Sie hatten vielleicht Angst davor, auf welche Fragen ich noch verfallen könnte. Ihr Blick wurde unsicher und wich mir aus. Das war ein harter Schlag, denn ich hatte doch die Welt entdeckt!

Zunächst wirkte ich vielleicht suchend und unsicher, unbeholfen. War ich es, der hier begriffsstutzig war? Konnte es sein, dass ich etwas übersehen oder nicht verstanden hatte, etwas über den Tod vielleicht, denn was wusste ich darüber eigentlich?

Oder war es einfach nur so, dass die Erwachsenen nicht über die Welt reden wollten?

Dass es etwas gab! Dass etwas existierte!

Zu diesen Tatsachen gab es aus ihrer Sicht nichts zu sagen.

Das war Anfang der1960er-Jahre und vielleicht zu einer Zeit, als die meisten Erwachsenen nicht mehr ganz so sicher waren, ob wirklich ein allmächtiger Gott innerhalb von sechs Tagen Himmel und Erde erschaffen hatte.

Ich kannte die Schöpfungsgeschichte gut, wir hatten sie in der Schule gelernt. Diese ganze gewaltige Geschichte konnte uns als Hausaufgabe aufgegeben werden, und einmal sogar mit der direkten Gefahr, am nächsten Tag dazu abgehört zu werden. Aber jetzt brachte niemand von den Erwachsenen sie zur Sprache.

Das, wonach ich gefragt hatte, hatte offenbar nichts mit der christlichen Lehre zu tun, nicht mit Heimatkunde, nicht einmal mit Erdkunde. Es war einfach unpassend, danach zu fragen, ungefähr so unpassend wie die Frage, woher eigentlich die Babys kamen, bevor sie dann im Bauch der Mutter wuchsen.Diese Frage hatte ich allerdings schon ergründet.

Hinter den anderen Büchern im Bücherregal hatte ich ein illustriertes Buch gefunden, und mir war klar geworden, dass aus einem unaussprechlichen Grund nagelneue Kinder im Leib der Mutter entstehen, aber so war die Welt nun einmal eingerichtet, man durfte nur den Kindern nicht genau verraten, wie das vor sich ging, denn Kinder konnten die Last der elterlichen Schande nicht ertragen, und ich war da keine Ausnahme. Ich würde nie wieder dasselbe gelassene und alltägliche Verhältnis zum Anblick einer Frau mit einem Kinderwagen bekommen, nachdem ich in diesem Buch geblättert hatte.

Aber noch peinlicher war es, in der Küche oder im Wohnzimmer zu stehen und bei helllichtem Tage mit Mutter oder Vater über die Frage zu sprechen — woher kommt die Welt?

Ich konnte zu ihnen hochschauen und hinzufügen, fast bettelnd: Ihr findet die Welt also ganz normal, oder?

Und das war dann der Gipfel! Ja, die Welt ist normal, wurde mir versichert, sicher ist sie das,total normal.

Vielleicht wurde es auf eher energische Weise gesagt. Und vielleicht mit dem Zusatz: Ich finde, du solltest nicht zu viel über solche Dinge nachdenken.

Über solche Dinge? Ich glaube zu verstehen, was sie meinten. Sie meinten, ich könnte verrückt werden, wenn ich zu viel darüber nachdächte, dass die Welt nicht normal war.

Eltern und Lehrer hielten also offenbar die Welt — diese Welt! — im Grunde für total normal. Das sagten sie jedenfalls. Aber ich wusste, wenn sie nicht logen, dann irrten sie sich.

Ich wusste, dass ich recht hatte, und ich beschloss, niemals erwachsen zu werden. Ich versprach mir selbst, niemals einer zu werden, der die Welt als selbstverständlich hinnimmt.

Viele Jahre später sah ich Steven Spielberg FilmUnheimliche Begegnung der dritten Art.

Der Titel hat damit zu tun, dass jemand, der am Himmel einUFO sieht, damit eine »Begegnung« der ersten Art hat. Wer physische Beweise für einen Besuch von »Aliens« aus dem Weltraum findet, hat eine Begegnung der zweiten Art. Und wer das Glück hat — oder das Pech —, in physischen Kontakt zu den Fremden zu kommen, hat eine Begegnung der dritten Art. Ach! Sensation!

Aber als ich an jenem Abend den Kinosaal verließ, ging mir auf, dass das eigentlich gar nicht so besonders toll war. Ich hatte schließlich eine Begegnung der vierten Art erlebt.

Ich war selbst so ein rätselhaftes Weltraumwesen, und das konnte ich durch ein Zittern am ganzen Leib spüren.

Ich habe seither viele Male darüber...