: Monika Helfer
: Die Jungfrau Roman
: Carl Hanser Verlag München
: 9783446278844
: 1
: CHF 15.20
:
: Gegenwartsliteratur (ab 1945)
: German
: 152
: Wasserzeichen
: PC/MAC/eReader/Tablet
: ePUB
Zwei Jugendfreundinnen - die eine reich, die andere arm. Nach einem halben Jahrhundert begegnen sie sich wieder. Der neue Roman von Monika Helfer.
Gloria und Moni sind beste Jugendfreundinnen - die eine reich, die andere arm. Ein halbes Jahrhundert später begegnen sich die beiden Frauen wieder und Gloria beichtet ihr Lebensgeheimnis: Nie hat sie mit jemandem geschlafen. Früher kam Gloria immer gut an, war exzentrisch und schön, wollte Schauspielerin werden, war viel unter Menschen. Gloria und Moni wachsen auf im Mief der sechziger Jahre, sind konfrontiert mit Ehe, Enge und Gewalt. Wie wurden die beiden zu denen, die sie sind? Monika Helfer macht aus Lebenserinnerung große Literatur. Nach der Trilogie über ihre Familie und Herkunft ist 'Die Jungfrau' ein atemloser Roman über die jahrzehntelange Freundschaft zwischen zwei Frauen.

Monika Helfer, geboren 1947 in Au/Bregenzerwald, lebt als Schriftstellerin mit ihrer Familie in Vorarlberg. Sie hat zahlreiche Romane, Erzählungen und Kinderbücher veröffentlicht. Für ihre Arbeiten wurde sie unter anderem mit dem Österreichischen Würdigungspreis für Literatur, dem Solothurner Literaturpreis und dem Johann-Peter-Hebel-Preis ausgezeichnet. Mit ihrem Roman Schau mich an, wenn ich mit dir rede (2017) war sie für den Deutschen Buchpreis nominiert. Für Die Bagage (Roman, 2020) erhielt sie den Schubart-Literaturpreis 2021 der Stadt Aalen. Zuletzt erschienen von ihr bei Hanser die Romane Vati (2021), mit dem sie erneut für den Deutschen Buchpreis nominiert war, und Löwenherz (2022).

Erstes Kapitel


Ich fürchte Überraschungen, wie Vögel Überraschungen fürchten.

An meinem70. Geburtstag bekam ich Post von meiner Schulfreundin Gloria. Als ich den Brief öffnete, sah ich, dass er von jemand anderem geschrieben worden war, von Glorias Nichte. Ihre Tante habe ihr aufgetragen, mit mir in Verbindung zu treten. Sie wolle mich noch einmal sehen, bevor sie sterbe. Es las sich wie ein Befehl. Obwohl kein Rufzeichen da war. Aber ich meinte die Stimme zu hören, die den Brief diktiert hatte.

Ich wollte sie nicht verlieren. Also fuhr ich mit dem Zug nach Bregenz, ging zu Fuß bis zu den Villen am Hang, stand vor dem Haus, niemand öffnete mir. Das Gartentor, so vertraut, jetzt verrostet, die dreizehnte Fee war hier gewesen. Ich ging nach hinten in den Garten, der überwuchert war, eine Machete hätte ich gebraucht, um durchzukommen bis zu dem Platz, wo die Steinbank gestanden hatte und vielleicht immer noch stand. Von unten war sie nicht zu sehen. Als Sechzehnjährige meinte ich von dort aus besser in die Welt hinaus träumen zu können als von jedem anderen Platz. Oft hatte ich Gloria nur besucht, um mit ihr auf der Steinbank zu sitzen. Sie war der vornehmste Gegenstand in meinem Leben. Wenn mir Gloria erlaubt hätte, allein dort zu sitzen, wenn sie mir eine Tasse Tee gebracht hätte, ich wäre grundzufrieden gewesen. Und sie wäre eifersüchtig gewesen. Und zornig. Weil ich es mir erlaubte, mit mir allein so zufrieden zu sein.

Ich war bei meiner Tante untergebracht, eng und laut, in der Südtirolersiedlung, zusammen mit meinen beiden Schwestern. Der Tee bei Gloria zu Hause schmeckte anders. Dass Tee verschiedene Namen haben konnte, hatte ich bis dahin nicht gewusst. Bei uns hieß er: Schwarztee. Bei Gloria wurde unterschieden — Earl Grey, Darjeeling, Assam, Ceylon. Am elegantesten schmeckte mir Earl Grey. Wahrscheinlich, weil mir Gloria erzählt hatte, er sei nach einem englischen Adeligen benannt. Mein Onkel Theo, der dafür sorgte, dass meine Schwestern und ich zu essen und eine Matratze zum Schlafen hatten, der hätte diesen Tee schon aus Prinzip nicht getrunken, weil er alle Adeligen für Halunken hielt. Das war ein weiterer Grund, warum ich ihn »bevorzugte«. Ja, so drückte ich mich aus. Auf Glorias Frage, was für einen Tee ich wünsche, antwortete ich: »Ich bevorzuge Earl Grey.«

Der Garten war, als hätte ich ihm aus der Ferne zugesehen, wie er älter und alt wurde, vertraut und zugleich einschüchternd, was wusste ich denn, was er erfahren hatte in den vielen Jahren. Ich rief Glorias Nichte an, sie hatte ihre Nummer unter ihren Namen gesetzt und neben den Namen in Klammern: »Tante Glorias Nichte«. Alles so klein, dass es wieder wie ein Befehl wirkte, einer diesmal, der sich mit Schüchternheit tarnte. Das bildete ich mir alles nur ein, ganz gewiss. Gloria war immer eine gewesen, die meine Einbildungskraft anzündete, zu schönen Bildern und zu weniger schönen.

Ich bangte, ich könnte zu spät gekommen sein. Bangte, die Stimme der Nichte am Telefon würde dunkel werden, sobald ich meinen Namen ausgesprochen hätte. Ich sagte, ich stünde vor dem Haus, hätte schon dreimal geklingelt. Ihre Tante höre schlecht, ich solle mir keine Sorgen machen. Sie wohne ums Eck, sie komme gleich. Ich solle mich derweil auf die Bank an der Hauswand setzen.

Diese Bank war neu. Ich kannte sie nicht, eine aus Holz, schwarz von Algen. Vielleicht war sie als Ersatz für die steinerne oben im Garten aufgestellt worden. Weniger vornehm.

Es war Oktober, ich fror, war ungeeignet angezogen, hatte meinen besten Mantel über, einen schwarzen Trenchcoat, der gut in den April gepasst hätte, darunter mein blaues Kleid, ein teurer, dünner, jugendlicher Fetzen, kniehohe Stiefel, das alles, um Gloria zu imponieren.

Zu wem gehörte die Nichte? Gloria hatte einen Nachzüglerbruder, das hatte ich gewusst. Der hatte aber nie eine Rolle gespielt. Einmal hatte ich Gloria gefragt, ob er, dessen Namen ich immer wieder vergaß, denselben Vater habe wie sie. Da war sie beleidigt gewesen. Ruck und weg, mit wippendem Rossschwanz über dem selbstbewussten Nacken. Gloria war sehr gut im Erzeugen von schlechtem Gewissen bei anderen. Im Erzeugen von doppelt schlechtem Gewissen bei mir. Erstens, weil ich sie gekränkt hatte. Zweitens, weil ich nicht wusste, was sie gekränkt haben könnte, ich also obendrein ein unempfindlicher, empathieloser Klotz war. »Wenn du es nicht weißt, hat es auch keinen Sinn, es dir zu erklären, du würdest es ohnehin nicht verstehen.« Ein dreifach schlechtes Gewissen, weil drittens auch noch Dummheit. Was aus dem Bruder geworden war? Meine Fantasie überbietet sich selbst mit Geschichten, und irgendwann sind alle durch, und dann interessiert mich keine mehr, nicht einmal die wahre. Ich hatte nachgerechnet und kam drauf, dass Glorias Vater schon längst nicht mehr da war, als ihr Bruder gezeugt wurde. Glorias Mutter folglich einen Liebhaber gehabt haben musste. Ich hatte Glorias Mutter beobachtet. Ob an ihr etwas bemerkbar wäre, das auf einen Liebhaber hätte schließen lassen. Sie war klein, nicht so klein wie ihre Tochter, und sehr dick. Das sei sie aber nicht immer gewesen. Im Gegenteil. Noch mit dreißig war sie eine durchaus zierliche Frau. Fast wie Gloria. Erst als ihr Mann sie verlassen hatte, habe sie sich »endgültig angefressen« — Glorias Worte. Welcher Mann? Ich kann mich nicht erinnern, dem Mann je begegnet zu sein, weder dem einen noch dem anderen. Und der Bruder, was war mit dem? Weg zu seinem Vater, dem Liebhaber? Auf jeden Fall weg. Wo doch überall an den Wänden des Hauses Bilder hingen — keines von Glorias Vater, keines von Glorias Bruder, keines von einem eventuellen Liebhaber. Glorias Mutter konnte mich gut leiden. Sie behandelte mich zwar von oben herab, aber doch so, als traue sie mir zu, dass ich mich irgendwann auf ihr Niveau emporarbeitete. Sie führte mich manchmal durch die Bildergalerie ihres Hauses. Sie sagte zum Beispiel: »Und das hier ist Josef, das ist in Ägypten aufgenommen worden.« Ich wusste nicht, wer Josef war, und sie tat, als wüsste das jeder.

Die Nichte war eine gestandene Frau, wuchtig, in einem gesteppten Mantel, der sie noch wuchtiger aussehen ließ. Bevor sie sich vorstellte, sagte sie, sie sei die einzige Vertraute ihrer Tante, außer mir natürlich, sonst käme kein Mensch in ihre Nähe. — Das war zweideutig: Sonst lasse sie niemanden in ihre Nähe, oder sonst wolle niemand in ihre Nähe. Das eine wie das andere, dachte ich.

»Ich bin Klara«, sagte sie, »und du bist Monika.« Sie duzte mich. Wie eine Verwandte, von der man nichts weiß und die einen duzt, weil sie halt eine Verwandte ist.

Im Stiegenhaus und in den Korridoren roch es muffig. Nichts hatte sich verändert. Der Geruch war nicht älter geworden. Die Tapeten schon. Die Bilder an den Wänden auch. Wie die Bäume im Garten. Alte Bekannte, aber eben alte Bekannte. Menschen bekommen Falten, Dinge werden dunkel.

»Tante!«, rief Klara. »Besuch von Monika! Sie ist tatsächlich gekommen, stell dir vor!«

Wir hörten Wehklagen.

Gloria lag auf ihrem Kanapee, das ich auch noch kannte, eines mit Tulpenmustern und Lampions, mit ewigen Kissen. Sie erhob sich mühsam. Sie trug den Kimono ihrer Mutter. Auf der Vorderseite rechts und links je eine große Lotosblüte, die Stängel unten über dem Saum beginnend, die Blüten über den Brüsten bis zu den Schlüsselbeinen hinauf. Das Gewand war ihr einiges zu weit und zu lang.

»Moni!«, rief sie, auf einmal hellwach, bereit zu einerDoppelconférence auf der Bühne. »Hast du heute schon geschrieben, und was?«

»Heute noch nicht.«

»Du sagst, du schreibst jeden Tag.«

»Wann habe ich das gesagt?«

»In einem Interview. Ich lese alle deine Interviews. Ich gebe deinen Namen in den Google ein, drücke auf News und auf die letzten vierundzwanzig Stunden, und dann sehe ich, was es Neues über dich gibt. Das mache ich jeden Morgen. Nicht als Erstes, aber manchmal schon als Zweites.«

»Ich gebe nicht viele Interviews.«

»Ach, komm!«

»Ich schreibe heute Nacht eine Seite.«

»Handelt sie von mir? Du besuchst mich, und hinterher schreibst du eine Seite. Über mich?«

»Hättest du das gern?«

»Ja, Moni, schreib eine Seite über mich, denn wenn ich sterbe, ist dann noch etwas von mir da. Und du glaubst,...