Die Sonne sank tiefer in den Wolkenkratzerwald vor meinem Fenster in der Kanzlei. Ich stellte mir vor, wie ich an meinem Schreibtisch sitzen bleiben und darauf warten würde, dass sich die Dunkelheit herabsenkte. Ich fragte mich, ob sie mich heute Abend endlich ganz verschlucken würde. Wie ich dieses dämliche Büro hasste!
In dem hohen Gebäude gegenüber ging ein Licht an. Bald schon würden weitere Lichter folgen und die Räume erhellen – für Menschen, die beschäftigt waren mit ihrer Arbeit, mit ihrem Leben. Vielleicht sollte ich einfach akzeptieren, dass ich wieder einmal bis spätabends Überstunden machen musste. Nach einer halben Ewigkeit stand ich auf, streckte die Hand zum Lichtschalter aus und schaltete die Deckenlampe an, dann setzte ich mich wieder.
Der kleine Lichtzirkel fiel von oben auf das nicht angerührte Mittagessen neben meinem Schreibtisch, das Sam mir heute Morgen eingepackt hatte – den ganz besonderen, gepfefferten Thunfisch auf genau dem richtigen Roggenbrot mit Karotten. Mein Ehemann machte sich Sorgen, dass ich an Vitaminmangel leiden könnte. Zu Recht. In den elf Jahren, die wir mittlerweile in New York wohnten – verheiratet waren wir seit acht Jahren –, hatte mir Sam jeden Tag etwas zu Mittag eingepackt. Für sich selbst hatte er das nie getan.
Ich versetzte dem Essen einen halbherzigen Tritt und warf einen Blick auf die Uhr an meinem Computer:19.17 Uhr. Es war noch nicht mal sonderlich spät, und die Zeit bei der renommierten Kanzlei Young& Crane schien wie immer unendlich langsam zu verstreichen. Meine Schultern sackten herab, als ich versuchte, mich auf das immer noch saftlose Antwortschreiben an dasUS Department of Justice, das amerikanische Justizministerium, zu konzentrieren, das ich für einen anderen Senior Associate verfasste – einen mit keinerlei Strafrechterfahrung. Der Mandant war ein Handyakkuhersteller, in dessen Unternehmen mehreren Vorstandsmitgliedern Insidergeschäfte vorgeworfen wurden. Es handelte sich um eine der typischen Strafsachen, mit denen sich die Kanzlei befasste: ein unerwartetes Problem für einen Mandanten aus der Wirtschaft zu lösen.
Die Kanzlei Young& Crane hatte keine explizite Abteilung für Wirtschaftskriminalität. Stattdessen hatte sie Paul Hastings, ehemaliger Leiter derDOJ-Abteilung für Gewalt und organisierte Kriminalität des Southern District von New York. Und jetzt hatte sie auch mich. Paul war vor meiner Zeit bei derUS-Bundesstaatsanwaltschaft gewesen, aber er kannte – und schätzte – meine damalige Mentorin und Chefin Mary Jo Brown, die vor vier Monaten so lange auf ihn eingewirkt hatte, bis er mir einen Job in der Kanzlei gab. Paul war ein beeindruckender, hoch angesehener Anwalt mit jahrzehntelanger Erfahrung, aber bei Young& Crane kam er mir stets vor wie ein Rennpferd im Ruhestand, das sich verzweifelt danach sehnte, dass die Tore ein letztes Mal aufsprangen.
M&M’s. Das war es, was ich brauchte, um endlich diesen Brief fertig zu bekommen, der trotz all meiner Anstrengungen aus drei Absätzen wenig stichhaltiger Ausweichmanöver bestand. Es gab immer M&M’s an der überquellenden Snackbar bei Young& Crane – eine Sonderzulage für die, die die ganze Nacht durchschuften mussten. Ich wollte mich gerade auf die Suche danach machen, als eine E-Mail-Benachrichtigung auf meinem Handy erschien, das ganz am Rand des Schreibtischs lag, damit es mich nicht von der Arbeit ablenkte.
Die Nachricht an meinen Privat-Account kam von Millie, in der Betreffzeile stand:Ruf mich bitte an. Das war nicht ihre erste E-Mail in den letzten Wochen. So beharrlich war sie für gewöhnlich nicht, aber es kam auch nicht zum ersten Mal vor, was bedeutete, dass es nicht zwingend um Leben und Tod ging. Ohne die Nachricht zu öffnen, wischte ich sie in den Ordner für ältere E-Mails. Ich würde sie irgendwann lesen, zusammen mit den vorherigen – das tat ich letztendlich immer –, aber nicht heute Abend.
Mein Blick haftete noch immer auf dem Handydisplay, als das Bürotelefon klingelte. Ein externer Anruf mit meiner Direktdurchwahl, das hörte ich am Klingelton. Vermutlich Sam. Nicht viele Leute kannten diese Nummer.
»Hier spricht Lizzie«, meldete ich mich.
»Dies ist ein R-Gespräch aus einer New Yorker Justizvollzugsanstalt von …«, verkündete eine männliche Computerstimme, dann folgte