2. KAPITEL
Zahir wandte sich vom Fenster samt seiner trüben Aussicht ab und blickte auf den kleinen Kazim, der ihn mit seinen schokoladenbraunen Augen neugierig anstarrte. Langsam sank er auf die Knie, um sich auf eine Höhe mit dem Kind zu begeben. Schmerz erfasste ihn. Der Junge sah seinen beiden Eltern wirklich verdammt ähnlich – allein der Anblick seines kleinen, lebhaften Gesichtes mit dem lausbubenhaften Grinsen ließ Faisals und Maryams frühzeitigen Tod noch tragischer erscheinen.
Zorn und Bitterkeit, die so lange an Zahir genagt hatten, fielen mit einem Mal von ihm ab und wurden von einem ganz anderen Gefühl ersetzt. Liebe – rein und unverfälscht – durchströmte ihn, und so streckte er die Hand aus und streichelte mit zitternden Fingern sanft über Kazims Wange.
Faisals kleiner Sohn war eine Waise, doch er würde sich niemals allein oder ungeliebt fühlen müssen. Er, Zahir, würde dafür sorgen. Sein dummer Stolz hatte verhindert, dass er sich rechtzeitig mit seinem Bruder ausgesöhnt hatte, aber seinen kleinen Neffen würde er lieben wie sein eigenes Kind. Kazim gehörte nach Qubbah. Nichts und niemand würden Zahir daran hindern, ihn nach Hause zu bringen.
„Er wirkt sehr groß für einen Dreijährigen“, bemerkte er an die Köchin gewandt, die sich auf einen Sessel am Kamin niedergelassen hatte.
„Oh, das ist er auch – und stark“, stimmte sie heiter zu. „Er ist außerdem verdammt dickköpfig, ein außerordentlich liebenswertes Kind, das genau weiß, was es will. Manchmal muss Erin allerdings ganz schön mit dem Kleinen ringen – vor allem, wenn er gebadet werden soll.“
Zahir runzelte die Stirn. „Was meinen Sie damit – mit ihmringen? Verliert sie die Beherrschung?“
Kazim war ein kräftiges Kleinkind, doch seit dem Tod seines Vaters war er – ganz allein auf der Welt – vollkommen auf Erins Fürsorge angewiesen. Werwar diese Frau eigentlich, in deren Obhut Faisal seinen Sohn gegeben hatte? Erin behauptete, dass sie Kazim liebe, aber er, Zahir, war ein Blutsverwandter des Kleinen, und plötzlich erfasste ihn ein regelrechter Beschützerinstinkt.
„Himmel, nein.“ Alice schüttelte vehement den Kopf. „Erin ist bewundernswert geduldig mit ihm. Sie betrachtet ihn wirklich als ihr eigenes Kind – und immerhin ist sie die einzige Mutter, die er je gekannt hat.“
Die letzten Worte der Köchin behagten Zahir ganz und gar nicht, weshalb sich sein Stirnrunzeln noch vertiefte. Als er jedoch zu ihr hinüberschaute, setzte er bewusst ein entwaffnendes Lächeln auf. „Wenn ich recht verstanden habe, dann hat Erin zuerst für meinen Bruder gearbeitet und ihn dann vor einem Jahr geheiratet?“
„Ja. Faisal hat sie als Kazims Nanny eingestellt, als er hier einzog“, bestätigte Alice, die unter Zahirs Charmeattacke förmlich dahinschmolz. „Nach Faisals Tod gab es dann unten im Dorf einigen unschönen Klatsch und Tratsch. Ein paar Leute behaupteten, sie hätte ihn durch ihr Versprechen, sich um Kazim zu kümmern, dazu gebracht, sie zu heiraten und ihr Ingledean zu vermachen.“ Sie schnaubte verächtlich. „Völliger Unsinn, natürlich – Erin ist kein bisschen berechnend, aber manche Leute sind derart gehässig und missgünstig, dass sie all die alten Sachen über ihre Vergangenheit wieder ausgraben …“
Plötzlich verstummte die Köchin verlegen. Zahir hakte sofort nach: „Was ist mit ihrer Vergangenheit?“
„Oh, es war nichts“, versicherte Alice rasch. „Erin hatte eine sehr unglückliche Kindheit, und als Teenager ist sie wohl einmal mit dem Gesetz in Konflikt geraten. Es war nur eine kleine Sache, soweit ich weiß.“ Sie hielt inne, ganz offensichtlich beschämt, weil sie so viel ausgeplaudert hatte. „In jedem Fall hat Faisal Erin vertraut“, sagte sie fest, während sie aufstand und etwas Holz ins Feuer warf. „Auch wenn sie keine normale Ehe geführt haben, so haben sie sich doch sehr gemocht.“
Keine