Die Unbeschwertheit des Himmels
Eines Morgens.
Ich erinnere mich noch genau. Eines Morgens, ich war vier Jahre alt, stand ich auf einem Bänkchen vor dem Spiegel im Badezimmer. Grün. Alles war grün. Grasgrün, smaragdgrün. Grün und federweich. Ich neigte den Kopf nach links, nach rechts, die schwarzen Augen folgten, ohne zu blinzeln. Der orangegelbe Schnabel. Ich machte ihn auf, und nichts kam heraus, kein Wort, nur ein Ton, wie bei einer Vogelwasserpfeife. Zu meinem vierten Geburtstag habe ich von meiner Oma eine bekommen. Man pustete in ihren gefächerten Schwanz hinein, und in ihrem Keramikbauch gluckerte das Wasser, und ein Piepsen war zu hören, ein Piepsen, das mich entzückte. Meine Mutter mochte es nicht, zu viel verschüttetes Wasser auf dem Parkettboden. Bald durfte ich nur noch im Freien mit ihr spielen, was ich nicht tat: Ich hatte Angst, sie fallen zu lassen. Ich hatte Angst, sie würde auf dem harten Asphalt vor unserm Wohnhaus zerbrechen. Ich hatte sie auf das Regal neben meinem Bett gestellt und sie vergessen, wie es nur ein vierjähriges Kind kann. Aber jetzt, mich im Spiegel betrachtend, erinnerte ich mich kurz daran, nur wegen dieses merkwürdigen Tons, der aus meinem glitzernden Schnabel kam. Tief und dunkel. Ich breitete die Flügel aus. Meine Brust war rot, ein kräftiges Rot, das mich an das Kleid meiner Mutter denken ließ, das Kleid, das sie noch nie anhatte, das in ihrem Schrank hing und sie angeblich vorwurfsvoll ansah, jedes Mal, wenn sie ihn aufmachte. Ich verstand es nicht. Ich hatte es geprüft, und es war nichts geschehen, absolut gar nichts: Das Kleid hing leblos und augenlos zwischen den anderen Kleidern meiner Mutter, und das Einzige, wodurch es sich von diesen unterschied, war das knallige Rot, so rot, als würde der Schrank brennen. Ich bewegte die Flügel, es fühlte sich leicht an. Ich hob ab, ganz wenig, aber genug, um meinen langen Schwanz zu sehen. Ich drehte eine Pirouette, und er schlug auf das Becken, streifte die Badewanne, blieb fast an der offenen Tür der Waschmaschine hängen. Ich landete wieder sanft auf der Bank, während sich meine Kopfhaare aufstellten, wie eine Haube sahen sie aus. Ich fand es lustig, richtete sie immer wieder auf. Wild sah ich aus, wild, aber nicht gefährlich. Und auch wenn unser Badezimmer vollkommen weiß und ich beinahe vollkommen grün war, fühlte ich mich gut versteckt, außer Gefahr, als könnte mich niemand finden. Mir meine Federn, meine wunderschönen langen Schwanzfedern entreißen. Ich blinzelte ein paarmal und entdeckte die roten Pünktchen in meinen Augen, ich neigte mich über das Waschbecken, kam dem Spiegel näher. Ja, tatsächlich rot. Taubengroß und prächtig, so war ich in dem Augenblick, an dem frühen Nachmittag. Während meine Eltern im Schlafzimmer stritten, der Holzboden knarrte und etwas in die Brüche ging. Aber ich war in Sicherheit, verschwand unter den weißen Fliesen und Kacheln und zwitscherte mal tief, mal schrill, an meine Wasserpfeife denkend. Während meine Mutter weinte, ganz laut und ohne Zurückhaltung, und mein Vater auf die Möbelstücke schlug. Jedenfalls dachte ich, er wäre das, diese dumpfen Schreie des Bettes, der Kommode unter dem Fenster, des Schrankes. Dunkles Holz, das älter war als ich, viel älter, was nicht schwierig war. Ich war erst vier. Erst vier, und schon so schön grün. Erst vier, und schon flügge.
Als ich dann mit sieben Jahren endlichMein großes Buch der Weltvögel zu Weihnachten bekam, erkannte ich mich sofort, mein Ich von damals. Ich sah mich auf einem hellbraunen Zweig hocken, ein wenig angespannt, kein roter Punkt im Auge, das Grün meiner Federn mit dem Grün des Urwalds verschmolzen. Ein Kammtrogon. EinPharomachrus antisianus. Ich wunderte mich nicht. Über nichts wunderte ich mich. Mit vier Jahren schon hatte ich alles selbstverständlich gefunden. Mit sieben Jahren wusste ich dann auch, dass ich alles sein konnte, jeder Vogel. Alle Vögel der Welt waren bei mir zu Hause. Und mein Zuhause war der Himmel.
Mit meinen vier Jahren wunderte es mich aber auch nicht, dass niemand sich über mein Aussehen wunderte. Über meine Unfähigkeit zu sprechen, mein buntes Gefieder. Alles war wie immer. Nachdem zuerst meine Mutter das Schlafzimmer verlassen hatte und ohne anzuklopfen ins Badezimmer hereingestürmt war, und kurz danach auch mein Vater. Wir standen alle drei in dem kleinen weißen Raum und taten so, als würden wir einander nicht bemerken oder als wäre alles ganz normal, die geröteten, verheulten Augen, die strähnigen, zerzogenen Haare meiner Mutter; und das blasse, fast weiße Gesicht, die roten zerkratzten Fäuste meines Vaters; und meine eigene Pracht, die sich im Spiegel wie in einem anderen Universum langsam und anmutig bewegte. Es wurde nicht geredet. Das Wasser lief in Strömen, was mir besonders auffiel, denn mein Vater achtete sehr darauf, dass nichts, aber wirklich gar nichts verschwendet wurde. Geizig würde ich ihn nicht nennen. Ich nicht. Aber meine Mutter zum Beispiel. Eben deswegen fand ich es seltsam, dass er nichts sagte, sie nicht einmal schief ansah, als sie das Wasser in der Badewanne einfach laufen ließ, auch als sie sich schon aufgerichtet hatte und ihr Gesicht im Handtuch versteckte. Mein Vater räusperte sich, nur das tat er, er räusperte sich, zog an meinem linken Flügel, als wäre das ganz normal, als wäre es ganz selbstverständlich, dass seine Tochter Flügel hatte. Er räusperte sich und ging in die Küche, wo er anfing, das Abendessen zuzubereiten, laut und unüberhörbar und voller Protest, voller Widerstand. Sie litten, sie mussten leiden, das war klar, all die Töpfe und Pfannen und danach die Teller und das Besteck. Sie mussten dafür bezahlen, und sie taten es ohne Widerrede. Als wir Stunden später am Tisch saßen und zu Abend aßen, sagte meine Mutter nichts, als ich mir mit meinem orangegelben Schnabel geräuschvoll die Fleischbrocken herauspickte und Rigatoni in einem Stück hinunterschlang. Zweimal legte sie lediglich ihre Hand auf meine grüne Haube und ließ sie da liegen, als wäre sie für jegliche Zärtlichkeitsbekundung eigentlich zu erschöpft. Mein Vater redete nicht mit mir. Auch nicht mit meiner Mutter. Er schmatzte sehr laut, und dann war der Tag schon vorbei, und ich zog mich in mein Nest zurück. Mein Schwanz hing hinaus, lang und unbedeckt, und berührte den Boden.
Eines Abends.
Ich kam eines Abends von meinem Musikunterricht nach Hause, ich war erst fünf geworden, aber Musik war schon mein ganzes Leben. Ich sang und spielte Klavier. Vor allem sang ich. Und die Welt hörte zu: Ich sah die Welt in der ersten Reihe sitzen, die Welt saß in der ersten Reihe und lächelte mir wohlwollend zu. Und dann, eines Abends, machte ich die Haustür auf, meinen Kopf und meinen Körper meiner Oma zugewandt, sie hatte mich, wie so oft, abgeholt. Ich lachte, sie konnte mit mir nicht Schritt halten, ich flog buchstäblich die Treppe hoch, sie staunte und wunderte sich über meine Flinkheit. Ich trat in den Flur, trillerte immer noch, gluckste. Alles war dunkel, kein Licht, in der ganzen Wohnung nicht. Ich blieb stehen, rief nach Oma, sagte, sie solle sich beeilen. Dann erschien meine Mutter in der Küchentür, ihr Gesicht ebenfalls dunkel. Es war Sommer, und sie hatte ein leichtes helles Kleid an, aber ihr Gesicht, ihr ganzer Kopf war von Dunkelheit verschlungen. Kein Licht brannte in der ganzen Wohnung, und dennoch sah ich es. Auch in der Finsternis sah ich die blauen Schatten um ihre Augen, vor allem um ihr linkes Auge, blau war der