: Rafik Schami, Franz Hohler, Monika Helfer, Root Leeb, Michael Köhlmeier, Nata?a Dragni?
: Tiere (eBook)
: ars vivendi
: 9783869136950
: 1
: CHF 13.40
:
: Gegenwartsliteratur (ab 1945)
: German
: 174
: Wasserzeichen
: PC/MAC/eReader/Tablet
: ePUB
Der zweite Band der Sechs-Sterne-Reihe: Wie kam Heinrich der Löwe zu seinem Löwen? Wie befreite Gottfried sein Dorf von den Schlangen? Und wohin kann die häusliche Gemeinschaft von Hund, Affe und Schwein führen? Die Antwort liegt in Kurzgeschichten. Und nicht in irgendwelchen. Sie liegt in den faszinierend kreativen, klugen und kunstvollen Kurzgeschichten sechs renommierter Autorinnen und Autoren, die in sich hineingehorcht haben und hineingespürt. Die den Tieren ihren Geist und ihr Herz geöffnet, ihnen ihre Erfindungsgabe und ihre literarische Sprachkraft gewidmet haben. Die der Spur zum Tier in uns ebenso gefolgt sind wie den Spuren vieler kleiner und großer Tiere, die uns im Außen begegnen, uns Zeichen zu geben scheinen - und deren Innerstes wir doch nie ergründen werden. Und so erzählen Nata?a Dragnic´, Michael Köhlmeier, Monika Helfer, Root Leeb, Franz Hohler und Rafik Schami von ihren Eindrücken, Gedanken und Fantasien rund um Hund und Katze, Möwe, Schildkröte und Wolf: Eine Frau schlüpft hin und wieder in einen Vogelkörper, ein Kind verwandelt sich im Lauf der Jahre in ein Schaf, Gorilladame Cosima wird zur Vertrauten in Liebesdingen, eine Katze weist den Weg zum erschlichenen Mutterglück, und Zierfische in der Zoohandlung helfen einem Mann, zarte Liebesbande zu knüpfen - mit unabsehbaren Folgen. - Sechs Autoren - sechs Bände: Pro Jahr und Band inspiriert ein Mitglied der literarischen Runde zu Geschichten rund um ein faszinierendes Thema - Es folgen vier weitere spannende Themen bis 2020 - Edle Ausstattung: Feinleinenbände mit farbigem Vorsatzpapier und Lesebändchen

Rafik Schami, 1946 in Damaskus geboren, wanderte 1971 in die Bundesrepublik aus. Er studierte Chemie in Heidelberg und schloss 1979 mit der Promotion ab. Heute zählt er zu den bedeutendsten Autoren deutscher Sprache. Seine Bücher erschienen in 28 Sprachen und wurden mit vielen Preisen ausgezeichnet. Seit 2002 ist Rafik Schami Mitglied der Bayerischen Akademie der Schönen Künste. Veröffentlichungen u. a.: Erzähler der Nacht (1989), Die dunkle Seite der Liebe (2004), Das Geheimnis des Kalligraphen (2008), Eine deutsche Leidenschaft namens Nudelsalat (2012), Sophia oder Der Anfang aller Geschichten (2015). Franz Hohler, geboren 1943 in Biel, aufgewachsen in Olten, studierte fünf Semester Germanistik und Romanistik in Zürich und arbeitet seither freischaffend für Bühne, Radio und Fernsehen. Er lebt mit seiner Frau in Zürich und schreibt Erzählungen, Romane, Gedichte, Kabarettprogramme, Theaterstücke und Kinderbücher. Zuletzt wurden von ihm veröffentlicht: Es war einmal ein Igel (Kinderverse, 2011), Gleis 4 (Roman, 2013), Immer höher (Bergtexte, 2014), Der Geisterfahrer (Erzählungen, 2013), Der Autostopper (Erzählungen, 2014) und Ein Feuer im Garten (Erzählungen, 2015). Für sein Werk erhielt er zahlreiche Auszeichnungen. Monika Helfer, geboren 1947 in Au/ Bregenzerwald, lebt als Schriftstellerin mit ihrer Familie in Vorarlberg. Sie hat Romane, Erzählungen und Kinderbücher veröffentlicht, zuletzt Bevor ich schlafen kann (2010), Oskar und Lilli (2011), Die Bar im Freien - Aus der Unwahrscheinlichkeit der Welt (2012) und Die Welt der Unordnung (2015). Gemeinsam mit Michael Köhlmeier veröffentlichte sie 2010 Rosie und der Urgroßvater. Für ihre Arbeiten wurde sie unter anderem mit dem Robert-Musil-Stipendium (1996) und dem Österreichischen Würdigungspreis für Literatur (1997) ausgezeichnet. Root Leeb, 1955 in Würzburg geboren, studierte Germanistik, Philosophie und Sozialpädagogik. Sie arbeitete zwei Jahre als Deutschlehrerin für Ausländer, danach sechs Jahre als Straßenbahnfahrerin in München. Heute lebt sie als Autorin, Malerin und Zeichnerin in Rheinland-Pfalz. Bei ars vivendi erschien 2001 Mittwoch Frauensauna, 2003 folgte Tramfrau - Aufzeichnungen und Abenteuer der Straßenbahnfahrerin Roberta Laub, 2012 ihr Roman Hero - Impressionen einer Familie, 2013 Die dicke Dame und andere kurze Geschichten und 2015 ihr Roman Don Quijotes Schwester. Michael Köhlmeier, 1949 in Hard am Bodensee geboren, lebt als Schriftsteller in Hohenems (Vorarlberg) und Wien. Er schreibt Kurzprosa, Lyrik, Bühnenstücke, Drehbücher sowie Hörspiele und hat zahlreiche Romane veröffentlicht, darunter Abendland (2007, Finalist beim Deutschen Buchpreis), Madalyn (2010) und Die Abenteuer des Joel Spazierer (2013). Mit Zwei Herren am Strand war er 2014 auf der Longlist für den Deutschen Buchpreis vertreten. Michael Köhlmeiers Werke sind in mehreren Sprachen erschienen, er ist Träger etlicher Literaturpreise. Nata?a Dragni?, wurde 1965 in Split (Kroatien) geboren. Nach dem Germanistik- und Romanistikstudium in Zagreb schloss sie eine Diplomatenausbildung ab. Seit 1994 lebt sie in Erlangen und war viele Jahre als freiberufliche Fremdsprachen- und Literaturdozentin tätig. Ihr Debüt Jeden Tag, jede Stunde erschien in rund 30 Sprachen, ihr zweiter Roman Immer wieder das Meer wurde 2013 veröffentlicht, ebenfalls in mehreren Übersetzungen.

 

Die Unbeschwertheit des Himmels

 

Eines Morgens.

Ich erinnere mich noch genau. Eines Morgens, ich war vier Jahre alt, stand ich auf einem Bänkchen vor dem Spiegel im Badezimmer. Grün. Alles war grün. Grasgrün, smaragdgrün. Grün und federweich. Ich neigte den Kopf nach links, nach rechts, die schwarzen Augen folgten, ohne zu blinzeln. Der orangegelbe Schnabel. Ich machte ihn auf, und nichts kam heraus, kein Wort, nur ein Ton, wie bei einer Vogelwasserpfeife. Zu meinem vierten Geburtstag habe ich von meiner Oma eine bekommen. Man pustete in ihren gefächerten Schwanz hinein, und in ihrem Keramikbauch gluckerte das Wasser, und ein Piepsen war zu hören, ein Piepsen, das mich entzückte. Meine Mutter mochte es nicht, zu viel verschüttetes Wasser auf dem Parkettboden. Bald durfte ich nur noch im Freien mit ihr spielen, was ich nicht tat: Ich hatte Angst, sie fallen zu lassen. Ich hatte Angst, sie würde auf dem harten Asphalt vor unserm Wohnhaus zerbrechen. Ich hatte sie auf das Regal neben meinem Bett gestellt und sie vergessen, wie es nur ein vierjähriges Kind kann. Aber jetzt, mich im Spiegel betrachtend, erinnerte ich mich kurz daran, nur wegen dieses merkwürdigen Tons, der aus meinem glitzernden Schnabel kam. Tief und dunkel. Ich breitete die Flügel aus. Meine Brust war rot, ein kräftiges Rot, das mich an das Kleid meiner Mutter denken ließ, das Kleid, das sie noch nie anhatte, das in ihrem Schrank hing und sie angeblich vorwurfsvoll ansah, jedes Mal, wenn sie ihn aufmachte. Ich verstand es nicht. Ich hatte es geprüft, und es war nichts geschehen, absolut gar nichts: Das Kleid hing leblos und augenlos zwischen den anderen Kleidern meiner Mutter, und das Einzige, wodurch es sich von diesen unterschied, war das knallige Rot, so rot, als würde der Schrank brennen. Ich bewegte die Flügel, es fühlte sich leicht an. Ich hob ab, ganz wenig, aber genug, um meinen langen Schwanz zu sehen. Ich drehte eine Pirouette, und er schlug auf das Becken, streifte die Badewanne, blieb fast an der offenen Tür der Waschmaschine hängen. Ich landete wieder sanft auf der Bank, während sich meine Kopfhaare aufstellten, wie eine Haube sahen sie aus. Ich fand es lustig, richtete sie immer wieder auf. Wild sah ich aus, wild, aber nicht gefährlich. Und auch wenn unser Badezimmer vollkommen weiß und ich beinahe vollkommen grün war, fühlte ich mich gut versteckt, außer Gefahr, als könnte mich niemand finden. Mir meine Federn, meine wunderschönen langen Schwanzfedern entreißen. Ich blinzelte ein paarmal und entdeckte die roten Pünktchen in meinen Augen, ich neigte mich über das Waschbecken, kam dem Spiegel näher. Ja, tatsächlich rot. Taubengroß und prächtig, so war ich in dem Augenblick, an dem frühen Nachmittag. Während meine Eltern im Schlafzimmer stritten, der Holzboden knarrte und etwas in die Brüche ging. Aber ich war in Sicherheit, verschwand unter den weißen Fliesen und Kacheln und zwitscherte mal tief, mal schrill, an meine Wasserpfeife denkend. Während meine Mutter weinte, ganz laut und ohne Zurückhaltung, und mein Vater auf die Möbelstücke schlug. Jedenfalls dachte ich, er wäre das, diese dumpfen Schreie des Bettes, der Kommode unter dem Fenster, des Schrankes. Dunkles Holz, das älter war als ich, viel älter, was nicht schwierig war. Ich war erst vier. Erst vier, und schon so schön grün. Erst vier, und schon flügge.

Als ich dann mit sieben Jahren endlichMein großes Buch der Weltvögel zu Weihnachten bekam, erkannte ich mich sofort, mein Ich von damals. Ich sah mich auf einem hellbraunen Zweig hocken, ein wenig angespannt, kein roter Punkt im Auge, das Grün meiner Federn mit dem Grün des Urwalds verschmolzen. Ein Kammtrogon. EinPharomachrus antisianus. Ich wunderte mich nicht. Über nichts wunderte ich mich. Mit vier Jahren schon hatte ich alles selbstverständlich gefunden. Mit sieben Jahren wusste ich dann auch, dass ich alles sein konnte, jeder Vogel. Alle Vögel der Welt waren bei mir zu Hause. Und mein Zuhause war der Himmel.

Mit meinen vier Jahren wunderte es mich aber auch nicht, dass niemand sich über mein Aussehen wunderte. Über meine Unfähigkeit zu sprechen, mein buntes Gefieder. Alles war wie immer. Nachdem zuerst meine Mutter das Schlafzimmer verlassen hatte und ohne anzuklopfen ins Badezimmer hereingestürmt war, und kurz danach auch mein Vater. Wir standen alle drei in dem kleinen weißen Raum und taten so, als würden wir einander nicht bemerken oder als wäre alles ganz normal, die geröteten, verheulten Augen, die strähnigen, zerzogenen Haare meiner Mutter; und das blasse, fast weiße Gesicht, die roten zerkratzten Fäuste meines Vaters; und meine eigene Pracht, die sich im Spiegel wie in einem anderen Universum langsam und anmutig bewegte. Es wurde nicht geredet. Das Wasser lief in Strömen, was mir besonders auffiel, denn mein Vater achtete sehr darauf, dass nichts, aber wirklich gar nichts verschwendet wurde. Geizig würde ich ihn nicht nennen. Ich nicht. Aber meine Mutter zum Beispiel. Eben deswegen fand ich es seltsam, dass er nichts sagte, sie nicht einmal schief ansah, als sie das Wasser in der Badewanne einfach laufen ließ, auch als sie sich schon aufgerichtet hatte und ihr Gesicht im Handtuch versteckte. Mein Vater räusperte sich, nur das tat er, er räusperte sich, zog an meinem linken Flügel, als wäre das ganz normal, als wäre es ganz selbstverständlich, dass seine Tochter Flügel hatte. Er räusperte sich und ging in die Küche, wo er anfing, das Abendessen zuzubereiten, laut und unüberhörbar und voller Protest, voller Widerstand. Sie litten, sie mussten leiden, das war klar, all die Töpfe und Pfannen und danach die Teller und das Besteck. Sie mussten dafür bezahlen, und sie taten es ohne Widerrede. Als wir Stunden später am Tisch saßen und zu Abend aßen, sagte meine Mutter nichts, als ich mir mit meinem orangegelben Schnabel geräuschvoll die Fleischbrocken herauspickte und Rigatoni in einem Stück hinunterschlang. Zweimal legte sie lediglich ihre Hand auf meine grüne Haube und ließ sie da liegen, als wäre sie für jegliche Zärtlichkeitsbekundung eigentlich zu erschöpft. Mein Vater redete nicht mit mir. Auch nicht mit meiner Mutter. Er schmatzte sehr laut, und dann war der Tag schon vorbei, und ich zog mich in mein Nest zurück. Mein Schwanz hing hinaus, lang und unbedeckt, und berührte den Boden.

 

Eines Abends.

Ich kam eines Abends von meinem Musikunterricht nach Hause, ich war erst fünf geworden, aber Musik war schon mein ganzes Leben. Ich sang und spielte Klavier. Vor allem sang ich. Und die Welt hörte zu: Ich sah die Welt in der ersten Reihe sitzen, die Welt saß in der ersten Reihe und lächelte mir wohlwollend zu. Und dann, eines Abends, machte ich die Haustür auf, meinen Kopf und meinen Körper meiner Oma zugewandt, sie hatte mich, wie so oft, abgeholt. Ich lachte, sie konnte mit mir nicht Schritt halten, ich flog buchstäblich die Treppe hoch, sie staunte und wunderte sich über meine Flinkheit. Ich trat in den Flur, trillerte immer noch, gluckste. Alles war dunkel, kein Licht, in der ganzen Wohnung nicht. Ich blieb stehen, rief nach Oma, sagte, sie solle sich beeilen. Dann erschien meine Mutter in der Küchentür, ihr Gesicht ebenfalls ­dunkel. Es war Sommer, und sie hatte ein leichtes helles Kleid an, aber ihr Gesicht, ihr ganzer Kopf war von Dunkelheit verschlungen. Kein Licht brannte in der ganzen Wohnung, und dennoch sah ich es. Auch in der Finsternis sah ich die blauen Schatten um ihre Augen, vor allem um ihr linkes Auge, blau war der