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In einer kalten Januarnacht des Jahres 1997 sprach ein 28-jähriger Anwalt, der erst vor Kurzem ins Unternehmerwesen gewechselt war, im New Yorker Puck Building vor einer kleinen Gruppe von Investoren, Journalisten und Freunden. Er versuchte, ihnen zu erklären, was Online-Social-Networking war, warum das Produkt, das er gleich vorstellen würde, das erste Beispiel für ein derartiges Vorhaben war, und warum dies die Welt verändern würde.[5] Es war die Zeit, da sich die erste Generation von Internetunternehmen wieYahoo!,Amazon undeBay etabliert hatte. Die Zeit, in der Start-up-Gründer versuchten, neue Geschäftsideen zu entwickeln, die durch das Internet erst möglich geworden waren. Das Ganze war starker Tobak.
Bei Andrew Weinreichs Produkt ging es im Wesentlichen darum, den Leuten eine Plattform zu bieten, auf der sie alle möglichen Informationen über ihre Interessen, ihre Jobs und ihre Beziehungen bereitstellen konnten. Er wollte Nutzer dazu bringen, all diese Infos an einem Ort zu bündeln. Die Firma, die er dafür gegründet hatte, nannte erSixDegrees, in Anlehnung an die Hypothese, dass jeder Mensch auf diesem Planeten nur sechs Bekanntschaftsgrade von allen anderen Menschen entfernt sei.[6] Weinreich dachte, die Hypothese stamme von dem großen Physiker Guglielmo Marconi, in Wirklichkeit geht die zugrunde liegende Idee auf den ungarischen Dichter Frigyes Karinthy zurück.
In Karinthys Erzählung »Kettenglieder« heißt es:
Der Planet Erde war noch nie so klein wie heute. Er ist zusammengeschnurrt – natürlich relativ gesprochen –, weil sich sowohl physikalische als auch verbale Kommunikation so unendlich beschleunigt haben. Dieses Thema ist nicht vollkommen neu, aber in dieser Form hatten wir damit noch nie zu tun. Wir haben nie darüber verhandelt, was es heißt, dass jeder Mensch auf der Erde auf meinen oder eines Anderen Willen hin heute innerhalb weniger Minuten erfahren kann, was ich denke oder tue, was ich will oder was ich am liebsten anfangen würde.
Kaum zu glauben, dass diese Worte im Jahr 1929 niedergeschrieben wurden!
Die Figuren in Karinthys Kurzgeschichte machen ein Experiment: Sie wollen herausfinden, ob eine Beziehungskette sie mit jedem der (damals) 1,5 Milliarden Menschen auf der Erde verbinden könnte. Dabei waren nur insgesamt fünf »Stationen« erlaubt. Man begann mit dem eigenen Netzwerk von Freunden, der nächste Schritt führte zu deren Netzwerk und so weiter. In der Geschichte gelingt es einer der Figuren tatsächlich – ein ungarischer Intellektueller wie der Autor selbst –, nach nur fünf Stationen einen beliebigen Schraubendreher an der Fertigungsstraße der Ford Motor Company zu kontaktieren.
Karinthys Konzept geisterte weiter durch die Welt, bis einige Wissenschaftler in den 1960er- und 1970er-Jahren mit der damals noch eingeschränkten Rechenkraft von Computern versuchten, die »Fünf-Stationen-These« zu beweisen. 1967 veröffentlichte der Soziologe Stanley Milgram inPsychology Today einen Artikel über das, was er das »Kleine-Welt-Phänomen« nannte. Und zwei Jahre später versuchten er und sein Co-Autor im Rahmen einer Studie,[7] beliebige Menschen in Nebraska mit Leuten in Boston zu verbinden; dabei fanden sie heraus, dass »zwischen Start und Ziel durchschnittlich 5,2 Kontakte nötig sind«. 1990 wurde das Prinzip auch einem kulturell interessierten Publikum bekannt, denn der Bühnenautor John Guare schrieb ein Stück darüber:Six Degrees of Separation (Das Leben – ein Sechserpack), das 1993 auch verfilmt wurde.
Weinreichs Konzept war zwar davon inspiriert, arbeitete selbst aber nur mit zwei bis drei Verbindungsgraden. »Meist lerne ich neue Menschen über Leute kennen, die mit bereits bekannt sind«, erzählte er seinen Zuhörern im Puck Building. Seit Jahrhunderten stellten Menschen über ihre Freunde und Bekannten Verbindungen zu Unbekannten her, aber das sei immer ein Vabanquespiel gewesen. »Ich hoffe, dass sich das heute ändern wird«, versprach er, »und zwar mit einem kostenlosen, webbasierten Netzwerkdienst.« Es sei in etwa so, als würde man sein Adressverzeichnis online stellen und es mit den Adressverzeichnissen anderer verlinken. »Wenn nun jeder sein Rolodex hochlädt, dann sollten Sie die ganze Welt kontaktieren können«, sprudelte Weinreich heraus.
In jener kalten Januarnacht entfaltete Weinreich eine Vision, die seine Zuhörer in Erstaunen versetzte: die ganze Welt, eingebunden in ein einziges Netzwerk. »Stellen Sie sich nur mal vor, wir hätten Informationen von jedem einzelnen Internet-User auf der Welt«, forderte er sein Publikum auf. (Natürlich gab es damals seiner Schätzung zufolge nur etwa vierzig bis sechzig Millionen Menschen, die überhaupt Zugang zum Internet hatten.) Weinreich nahm ganz selbstverständlich an, dass die Vernetzung