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Alice
Während ihrer Zeit auf der Intensivstation hatte Alice zumindest eines geschafft: sich eine ungefähre Vorstellung davon zusammenzubasteln, was mit ihr geschehen war. Es hatte eine Weile gedauert, den Nebel zu durchdringen und sich an den von Hitze, Rauch und Schreien geprägten Bildern vorbei bis zu dem vorzuarbeiten, was sie am fraglichen Tag getan hatte.
Am Abend vor dem Brand hatte sie lange gearbeitet und es nicht zu ihrem Pilates-Kurs geschafft. Sie erinnerte sich an ihren Ärger darüber. Eine einzige Stunde zu verpassen konnte bereits in eine Abwärtsspirale der Nachlässigkeit führen. Nach zwei doppelten Espressos und einer schnellen Dusche war sie kurz vor 6 Uhr morgens zur Tür hinaus und auf dem Weg ins Büro gewesen.
Alice hatte so lange und so hart gearbeitet, dass sie inzwischen ein sehr komfortables Gehalt bezog und eine höhere Position in einer Finanzberatungsfirma innehatte. Das wiederum hatte sie in die glückliche Lage versetzt, beim Kauf ihrer Wohnung die freie Wahl zu haben. Zunächst hatte sie sich gezwungen, in den Vororten zu suchen, sich die wunderschönen Häuser anzuschauen, die von ihren Bewohnern mit viel Kreativität und Liebe instand gehalten wurden. Sie ließ sich von den Maklern Häuser mit gepflegten Gärten zeigen, die von Sonnenlicht durchflutet waren und einen grünen Zufluchtsort im Betondschungel Londons boten. Sie beharrte auf zusätzlichen Zimmern für zukünftige Gäste und ihren potenziellen Nachwuchs. Irgendwann erwischte sie sich dabei, von »Nachwuchs« statt von »Kindern« zu sprechen. Daraufhin beschloss sie, ehrlich mit sich zu sein. Alice war stolz darauf, eine sehr alleinstehende, sehr zynische und sehr kompetente Person zu sein. Sie hatte nie an Dinge geglaubt, die sie nicht mit eigenen Augen sehen, mit einem Lineal vermessen oder zumindest in einem Lehrbuch nachschlagen konnte. Alice war kein Mensch, der gern tiefgründige, intellektuelle Gespräche führte. Offen gesagt, waren Träume und Hoffnungen nicht ihr Ding, und ganz sicher vermied sie es nach Möglichkeit, sich auf andere Menschen zu verlassen. Bequemlichkeit und Ruhe waren alles, was Alice Gunnersley brauchte. Also kaufte sie eine Penthousewohnung in Greenwich. Sie hatte keine Nachbarn auf ihrer Etage, stattdessen einen Blick auf den Fluss und einen Teil des Parks, sodass sie sich einreden konnte, mitten in der Natur zu leben. Vor allem aber konnte sie von der Wohnung aus ihr Büro sehen, was ihr jedes Mal auf perverse Weise ein Gefühl der Ruhe vermittelte.
Am Tag des Unglücks war es auf der Arbeit besonders stressig gewesen. Bis zum Wochenende musste Alice einen umfangreichen Bericht fertigstellen, der im Erfolgsfall dazu führen würde, ihre Eignung als mögliche zukünftige Partnerin in den Köpfen des Vorstands zu verankern. Dem Abschluss dieses extrem wichtigen Berichts standen unglücklicherweise endlose Sitzungen, Projektprüfungen und Finanzplanungen im Wege, dazu das regelmäßige Informationsgespräch mit ihrem Chef, das eine ganze Stunde in Anspruch nahm. Alice hatte sich schon oft gefragt, warum Henry auf diesen monatlichen Gesprächen bestand, wo sie doch jedes Mal nach demselben Drehbuch abliefen.
»Alice, Sie sind ohne Zweifel ein großer Gewinn für diese Firma. Ich kenne niemanden mit