1. Kapitel
Der Reißverschluss des Leichensacks öffnete sich und gab den Blick auf Cassies ersten Fall dieses Tages frei. Die halb offenen Augen der Frau, von verblüffend leuchtendem Blau, starrten blicklos zu ihr empor.
»Hallo, Mrs Connery.« Ihre Stimme wurde sanfter, als wenn sie mit Lebenden sprach. »Ich bin Cassie Raven, und ich kümmere mich um Sie, solange Sie bei uns sind.« Cassie zweifelte nicht daran, dass die Tote sie hören konnte – und hoffte, dass ihre Worte ihr ein kleiner Trost waren.
Am Vorabend war Kate Connery in ihrem Badezimmer zusammengebrochen und gestorben, als sie sich hatte bettfertig machen wollen, eine Woche vor ihrem fünfzigsten Geburtstag. Lachfältchen durchzogen ihr offenherziges Gesicht unter einem Haarschopf, der zu einheitlich brünett war, um natürlich zu sein.
Cassie schaute kurz zur Uhr hinauf und fluchte. Heute kam ein neuer Pathologe, um die Autopsien durchzuführen, und da Carl, der weniger erfahrene Sektionsassistent, krank war und sie drei Leichen auf dem Tisch hatten, würde sie alle Hände voll zu tun haben.
Trotzdem ließ sie sich Zeit dabei, Mrs Connery das Nachthemd über den Kopf zu ziehen. Ein schwacher Ammoniakgeruch von Schweiß oder Urin stieg ihr in die Nase, als sie es zusammenfaltete und sorgfältig in einer Plastiktüte verstaute. Die Sachen, die jemand angehabt hatte, als er gestorben war, bedeuteten ihren Lieben viel, manchmal mehr als der Leichnam selbst, zu dem die trauernden Hinterbliebenen manchmal nur schwer eine Verbindung fanden. Ein Leichnam konnte einem wie ein leerer Koffer erscheinen.
»Wir müssen rauskriegen, was mit Ihnen passiert ist, Mrs C«, erklärte Cassie ihr. »Damit wir Antworten für Declan und Ihre Jungs finden können.« Seit ihrem ersten Tag in der Pathologie vor fünf Jahren fand sie es vollkommen normal, mit den Leichen in ihrer Obhut zu sprechen, sie zu behandeln, als seien sie noch am Leben – als seien sie immer noch Menschen. Manchmal antworteten sie sogar.
Es war nicht so, als spräche jemand Lebendiges – zum Beispiel bewegten sich die Lippen der Toten nicht –, und es ging immer so schnell, dass es fast Einbildung gewesen sein könnte. Fast. Normalerweise sagten sie so etwas wie »Wo bin ich?« oder »Was ist passiert?« – schlichte Verwirrung angesichts des unbekannten Ortes, an dem sie sich wiederfanden –, aber hin und wieder war Cassie überzeugt, dass ihre Worte einen Hinweis darauf enthielten, wie sie ums Leben gekommen waren.
Cassie hatte nie einer Menschenseele von diesen »Gesprächen« erzählt; die Leute fanden sie ohnehin schon merkwürdig genug. Aber die wussten eben nicht, wovon sie ganz tief in ihrem Innern überzeugt war: Die Toten konnten sprechen – wenn man sich nur darauf verstand, ihnen zuzuhören.
Das einzige äußerliche Zeichen dafür, dass irgendetwas mit Mrs Connery nicht stimmte, waren ein paar rote Flecken auf ihren Wangen und ihrer Stirn sowie ein faustgroßer blauer Fleck auf ihrem Brustbein, wo entweder ihr Mann oder ein Rettungshelfer verzweifelt versucht hatte, sie zu reanimieren. Cassie sah ihre Akte durch. Nach einem Abend im Pub, wo er sich ein Fußballspiel angesehen hatte, war Declan Connery nach Hause gekommen und hatte seine Frau bewusstlos auf dem Boden ihres Badezimmers vorgefunden. Ein Notarztwagen hatte sie eilends ins Krankenhaus gebracht, doch als sie dort ankam, war sie tot gewesen.
Da Kate Connery unerwartet verstorben war – anscheinend hatte sie sich bester Gesundheit erfreut und war seit Monaten nicht beim Arzt gewesen –, war eine einfache Autopsie erforderlich, auch »Routineautopsie« genannt, um die Todesursache zu ermitteln.
Cassie legte Mrs Connery die Hand auf den kühlschrankkalten Unterarm und wartete, bis ihre eigene Körperwärme die Kälte vertrieb. »Können Sie mir sagen, was passiert ist?«, fragte sie halblaut.
Ein paar Sekunden lang geschah gar nichts. Dann spürte sie jenes vertraute Schlingergefühl, gefolgt von zerstreuter Verträumtheit. Gleichzeitig waren alle ihre Sinne plötzlich extrem geschärft – das Summen des Leichenkühlschranks wuchs zum Brüllen eines Düsenflugzeugs an, die Deckenbeleuchtung war auf einmal schmerzhaft grell.
In der Luft über Mrs Connerys Leichnam schien der letzte Funken jener Energie zu knistern, die sie fünf Jahrzehnte lang belebt hatte. Und aus diesem Rauschen hörte Cassie ein leises, heiseres Flüstern heraus.
»Ich kriege keine Luft!«
2. Kapitel
Wie immer war es sofort wieder vorbei. Das Ganze erinnerte Cassie an das Erwachen aus einem sehr lebhaften Traum, wenn der Verstand sich mühte, Details festzuhalten – nur um zu merken, wie sie ihm entglitten, wie Wasser durch offene Finger rinnt.
Jedenfalls waren Mrs Connerys Worte nicht besonders hilfreich. In der Akte stand nichts von Asthma oder einem Emphysem. Sie überlegte noch, ob sie irgendetwas damit anfangen konnte – und wenn ja, was –, als sie hörte, wie die Tür aufging. Es war Doug, der Verwaltungschef der Pathologie, gefolgt von einem hochgewachsenen jüngeren Mann mit Ponyfransen, den er als Dr. Archie Cuff vorstellte, den neuen Pathologen.
Cassie strei