Sie wurden von ihrer Mutter in aller Herrgottsfrühe in den Zug gesetzt. Die Fahrkarten steckten in einem braunen gebrauchten Kuvert im Ranzen. Die Auf enthaltsgenehmigung trägt Paul im Brustbeutel unterm gestärkten weißen Hemd. Auch die Westmark hat er am Leib, an der Grenze wird er den ganzen Betrag umtauschen müssen. Durch das gewölbte Glasdach der Bahnhofshalle stachen die ersten Sonnenstrahlen. Das aufdämmernde Morgenlicht schluckte die fahle Bahnhofsbeleuchtung. Einige Gestalten huschten über die Bahnsteige. Die Uhren zeigten fünf Uhr fünfundfünfzig. Der Zug stand bereit.
Die Mutter hatte sich und die beiden seit Wochen auf die Fahrt vorbereitet, sich vorgenommen, sie allein in den Zug zu setzen. Die Papiere nicht aus den Händen geben, nur an der Grenze herzeigen. Freundlich Antwort geben, sich aber nicht ausfragen lassen. Im Abteil sitzen bleiben und nur gemeinsam zur Toilette gehen. Einer sollte vor der Tür stehen bleiben. Die Fahrkarten nur dem Schaffner zeigen. Wenn ihr Hunger habt, nehmt was ich euch mitgegeben habe. An der Grenze alle Papiere zeigen und aufpassen, daß die Koffer nicht verschwinden. Die Grenzer sind auch nur Menschen. Das war der seltsamste Satz. Paul ging er nicht aus dem Kopf, er konnte sich nicht erklären, warum Mutter etwas so Selbstverständliches betonte.
Die Anweisungen seiner Mutter waren vertrackter als die Instruktionen seines Sportlehrers bei den jährlichen Kreismeisterschaften im Staffellauf. Vera, seine jüngere Schwester, hatte darauf bestanden, daß er die wichtigsten aufschrieb. Paul gab nach und schrieb einige Regeln in sein Vokabelheft, um unbehelligt über die Grenze zu kommen. Das Heft hat er zu Hause liegen lassen. Nichts Bedrucktes oder Geschriebenes mitnehmen. Das hatte die Tante in ihrem letzten Brief noch mal ausdrücklich gefordert. Die Kontrollen an der Grenze sind wieder verstärkt worden … Bis zu dieser Stelle hatte Mutter aus dem Brief laut vorgelesen.
Die Durchsage, die Türen schließen automatisch. Ein Pfiff. Der Zug ruckt an. Paul und Vera strecken sich aus dem Fenster. Mutter winkt, hält Schritt, läuft, bleibt zurück. Paul schließt das Fenster und läßt sich auf seinen Platz fallen. Vera preßt ihren Teddybär fest an sich und schaut stur wie eine Erwachsene, die unter keinen Umständen angesprochen werden will.
Heute abend sind wir da. Die Tante wird uns abholen.
Vera schweigt. Paul sitzt so aufrecht wie möglich. Im Geiste zählt er die Butterbrote und teilt sie für die Fahrt ein. Drei Flaschen Limonade werden reichen müssen. Eine Tafel Schokolade dürfen sie essen. An der Grenze wird Paul behaupten, daß auch die im Koffer als Proviant mitgenommen wurden. Nachher, hinter der Grenze, werden sie die Tafeln auch nicht anrühren, alles ist für die Tante und ihre Familie in der Zone. Über die Bananen werden sie sich besonders freuen, die, noch grün und in Kleidern eingewickelt, in den Koffern verstaut sind.
Paul sollte Vera vorlesen, wenn es ihr zu langweilig würde. Das Märchenbuch hatte Mutter in seinen Ranzen gesteckt. An der Grenze sollte er es offen liegen lassen, es ist von Drüben. Mutter hat es bei ihrem letzten Besuch gekauft. Jenaer-Glasschüsseln und Bücher sind für sie die Dinge, wofür es sich lohnt, das wertlose Geld aus dem Zwangsumtausch herzugeben. Bei den Glasschüsseln wartet sie seit Jahren auf die passenden Deckel. Die Buchseiten mit den Illustrationen sind zusammengeklebt. Das gehört so, hat Mutter strengt gesagt, nicht dran rumspielen. Die neuen Tuben Zahnpasta sind auch im Ranzen. Mutter hat sie erst am Morgen dazugesteckt.
Ihr Zug war von Anfang an ein Interzonenzug. Das riecht jeder, wußte Paul. Vera kann er es nicht erklären. Die Waggons sind von der Reichsbahn aus der Zone, die Lok gehört der Bundesrepublik Deutschland. An der Grenze wird sie ausgetauscht werden. Sie werden nicht umsteigen müssen, sie werden rangiert. Trotz all dem Gepäck ist Paul davon überzeugt, daß sie es schaffen werden, den Zug zu wechseln. Im letzten Jahr war er mit Vater in der Zone zu Besuch gewesen. Damals mußten sie umsteigen. Paul hat sich den Weg genau gemerkt. Einfach in den wartenden Zug auf dem gegenüberliegenden Bahnsteig wieder einsteigen. Halle an der Saale mußte auf dem Zugleitschild am Waggon stehen. Interzonenzüge warten immer auf Anschlußreisende. Vater und Paul aber hatten ihren Anschluß verpaßt. Vater war zu freigiebig und redselig gewesen. Aus der Bahnhofswirtschaft kamen sie nicht mehr los. Er t