: Dieter Wellershoff
: Die Schattengrenze
: Verlag Kiepenheuer& Witsch GmbH
: 9783462300871
: 1
: CHF 7.00
:
: Gegenwartsliteratur (ab 1945)
: German
: 134
: Wasserzeichen
: PC/MAC/eReader/Tablet
: ePUB
Der moderne Kriminalroman aus der Perspektive des gejagten Täters ist das Muster, das Wellershoffs zweiter Roman 'Die Schattengrenze' aufnimmt und das er zugleich sprengt. Es ist die Geschichte eines Mannes, der unter dem Druck seiner Umwelt und als Rache für sein eigenes Versagen ein verschwiegenes Delikt begeht, sich immer mehr verstrickt und der nun merkt, daß man ihm auf die Spur kommt. In rasch wechselnden, sich steigernden Geschehnissen und Vorstellungsreihen läuft das ab, eine flackernde Bilderfolge der Angst und Illusion, und immer deutlicher zeigt sich, daß es die Geschichte einer fortschreitenden Entwirklichung ist, eines rapiden Persönlichkeitszerfalls in einer immer wahnhafter gesehenen Welt. Ununterscheidbar wird der Täter vom Opfer gesellschaftlicher Zwänge, die in ihm wirksam sind als eine ihn zerstörende Macht Konkurrenzkampf und Angst vor der Isolation - bis in die Intimität des Sexus ist das anwesend und vergrößert und verfratzt sich zu einem drohenden paranoischen Zusammenhang, der ihn zur Flucht zwingt und dem er nicht entkommt. Im Gegensatz zu Wellershoffs erstem Roman Ein schöner Tag folgt Die Schattengrenze nicht strikt der Chronologie, sondern arbeitet innerhalb einer übergeordneten Chronologie mit Sprüngen in Zeit und Raum, Schnitten und Oberblendungen und variierenden Wiederholungen einzelner Vorgänge, entsprechend der erregten, sich immer mehr verzerrenden Erlebnisweise der Hauptperson.

Dieter Wellershoff, geboren am 3. November 1925 in Neuss, starb am 15. Juni 2018 in Köln. Er schrieb Romane, Novellen, Erzählungen, Essays und autobiographische Bücher, z.B. »Der Ernstfall«, 1995, über seine Erfahrungen im 2. Weltkrieg. Wellershoff hielt poetologische Vorlesungen an in- und ausländischen Universitäten, zuletzt in Frankfurt a.M. Er erhielt u.a. den Hörspielpreis der Kriegsblinden, den Heinrich-Böll-Preis, den Hölderlin-Preis, den Joseph-Breitbach-Preis und den Ernst-Robert-Curtius-Preis für Essayistik. Übersetzungen erschienen in bisher 15 Sprachen. Das Werk von Dieter Wellershoff ist bei Kiepenheuer& Witsch erschienen.

2


Er war schwindelig jetzt. Sie würde glauben, daß er getrunken hatte. Langsam stieg er die Treppe hinauf, wieder mit Schmerzen im Nacken von Vicentes Griff, schloß leise auf, zog leise die Tür hinter sich zu und machte Licht. Er hörte sie nicht. Im Garderobenspiegel erschien sein Gesicht, unerschütterlich von der gleichbleibenden, nun nicht mehr schlimmer werdenden Müdigkeit. Die Krawatte war verrutscht, er zog sie zurecht, strich sich vorsichtig mit der Hand über die Haare, als müsse er seinen Kopf befühlen.

Hilde saß im Wohnzimmer in ihrem gelben Sessel, als er eintrat, und irgend etwas an ihr war fremd oder verändert. Zuerst dachte er, es sei ihre Haltung, die Stummheit, mit der sie ihn ansah oder in seine Richtung blickte, dann sah er, daß sie sich zurechtgemacht hatte und das Chiffonkleid trug, sie hatte sich auch eine ihrer Ketten dazu ausgesucht, schien es aber vergessen zu haben, denn nichts bewegte sich in ihrem Gesicht, als er sagte, ah, du hast dich umgezogen. Sie sah ihm nur abweisend zu, wie er zur Kommode ging, eine Zigarette aus der flachen silbernen Schachtel nahm und sich ihr gegenüber auf den Hocker setzte. Schön, sagte er, es steht dir gut, und versuchte zu lächeln, als mache er ihr damit den Vorschlag, die Pose aufzugeben, aber er wußte, daß es aussichtslos war, und mußte sofort wieder wegblicken. Einen Augenblick konnte er sich damit beschäftigen, die Zigarette anzuzünden und zu rauchen, dann wollte er aufstehen und ins Badezimmer gehen und hinter sich abschließen. Sich ausziehen und waschen. In der Küche noch eine Flasche Bier trinken. Es war aussichtslos mit ihr, weil er ihr nichts erklären konnte. Sie machte keine Bewegung in ihrem Sessel. Was für eine Szene war das wieder oder was für eine lange Vorbereitung für eine Szene, denn sie wartete darauf, sie wollte es auf die Spitze treiben.

Ich geh schlafen.

Sie rührte sich nicht, sah ihn aber an, und er mußte sich zusammennehmen, um nicht zu zögern, als er an ihr vorbeiging. Im Badezimmer fand er den kleinen Schlüssel des Schließfaches in seiner Hosentasche und schob ihn durch das aufgerissene Taschenfutter seiner Jacke in den Saum. Auch das war nicht sicher, falls sie seine Sachen durchsuchte, aber er war zu müde, zu gleichgültig, immer mit ihr zu rechnen. Auf dem Badewannenrand sitzend, trat er die Schuhe von den Füßen, machte noch einen Zug aus der Zigarette und warf sie neben sich ins Klosettbecken. Rußspuren waren nirgendwo zu sehen. Im Krieg hatte er einmal mitten in einem Panzergefecht in einem leeren Schuppen gesessen und geraucht, er war abgeschnitten worden, als er den Kompaniegefechtsstand suchte, der anscheinend verlegt worden war, und hatte sich in den Schuppen zurückgezogen, als in der Nähe mehrere T 34 mit aufgesessener Infanterie vorbeifuhren. Es war dämmrig in dem Schuppen, das Sonnenlicht fiel in einem Streifen staubig durch die schlecht schließende Tür, und er saß in dem Staub und Modergeruch zwischen zwei Strohballen auf der steinharten Erde, langsam und mit Verstand rauchend, während rings um ihn in wechselnden Entfernungen Gefechtslärm und das Dröhnen der schweren Motoren war. Dann war es zeitweilig still geworden, und er hatte hinter sich durch die Bretterritzen in den Bauerngarten auf das Laub der Beerensträucher geblickt, überzeugt, daß nun alles unwiderruflich zu Ende war, der Krieg, sein Leben, aber zufrieden, allein zu sein und vielleicht hier noch einen Tag und eine Nacht bleiben zu können, versteckt zwischen den Strohballen seine eiserne Ration zu vertilgen und die letzten fünf Zigaretten zu rauchen. Das war es, was er gewünscht hatte, mehr nicht, er hatte unklar gedacht, sterben zu können, bevor wieder Menschen auftauchten, ohne sich den Tod vorzustellen, es war nur das Gefühl von etwas Endgültigem, das ihm als richtig einleuchtete, eine nie mehr unterbrochene Stille, die immer noch fortzudauern schien in allem, was um ihn herum war, die gekachelten Wände, die Handtücher über den Haltern, die beiden Becher mit den Zahnbürsten waren ein Bild, das ihn zwingen wollte weiterzumachen, aber er ging nicht darauf ein, und vielleicht würde es wieder nachlassen, so unglaubhaft deutlich und starr konnte es nicht bleiben. Es verbarg etwas, das andere, d