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MAI 2020
COPAPAYO, EL SALVADOR
Mit düsterem Blick verfolgte Elise Aguilar, wie die Begräbnisprozession den staubigen Dorfplatz überquerte. Die vier Männer, die den Sarg trugen, hielten die Köpfe gesenkt und folgten mit schwerfälligen Schritten dem Geistlichen, der den Leichenzug anführte, während sie den weißen Kindersarg auf den Schultern balancierten. Ein kleines Gebinde aus gelben Orchideen verbarg die mit der Hand gemalte Darstellung eines Fußballs, die den Deckel zierte.
Die Eltern und anderen Angehörigen des verstorbenen Kindes folgten dem Sarg. Trotz der halblaut geäußerten Trostworte der restlichen Dorfgemeinschaft schluchzten vor allem die Frauen hemmungslos.
Elise Aguilar blickte der Trauergesellschaft nach, bis sie hinter einer Biegung des Waldwegs verschwand und ihre Totenklage von dem dichten Laubwerk der Bäume verschluckt wurde. Der Friedhof des Dorfes lag auf der Kuppe eines kleinen Hügels jenseits des Waldes.
Sie achtete nicht auf einen schwarzen Jeep, der sich im Schritttempo an dem Trauerzug vorbeischlängelte, während sie kehrtmachte und einem ausgetretenen Fußweg in die entgegengesetzte Richtung folgte. Sie ging an ein paar schlichten einstöckigen Bauernhäusern mit weißem Gipsverputz vorbei, in denen die dreißig Einwohner des Dorfes wohnten. Der Weg führte bergab und verbreiterte sich zu einem Aussichtsplatz mit ungehindertem Blick auf einen im Licht der Morgensonne schillernden tiefblauen See.
Cerrón Grande lautete der Name des Gewässers. Er war der größte Stausee in El Salvador und angelegt worden, um die Region mit elektrischem Strom zu versorgen. Hunderte von Familien hatten umgesiedelt werden müssen, als der Rio Lempa im Jahr 1976 aufgestaut worden war. Einige der Familien hatten in dem überstürzt aufgebauten Dorf Copapayo eine neue Heimat gefunden. Elise Aguilar ließ den Blick über den See schweifen. Ein Fischer in einem Kanu und ein kleines Arbeitsboot kreuzten auf dem Wasserreservoir, das auf Landkarten auch als Suchitlán-See bezeichnet wurde. Auf der rechten Seite markierte eine grau-blaue Betonbarriere die Krone des Cerrón-Grande-Staudamms, der den See geschaffen hatte.
Elise machte sich an den Abstieg und folgte dem Pfad fast bis zum Seeufer. Dort, vor einem ausladenden Schutzdach aus knorrigen Baumwurzelsträngen, die mit Palmzweigen und Palmblättern bedeckt waren, blieb sie stehen und wischte sich den Schweiß von der Stirn. Ein halbes Dutzend roter Zelte war vor der gegenüberliegenden Seite des Schutzdachs mit den Eingängen zu einem schattigen Bereich unter dem Dach im Halbkreis angeordnet. Auf beiden Seiten dieses Camps erstreckten sich Felder, auf denen sich dichte Reihen sattgrüner Maisstängel in einer sanften Brise wiegten.
Unter dem Schutzdach saßen Mitarbeiter der United States Agency for International Development an provisorischen Arbeitstischen und führten Experimente oder Computerberechnungen durch. Aufgrund des feuchtheißen Klimas bestand die Arbeitskleidung der Wissenschaftler nahezu ausnahmslos aus Shorts und T-Shirts.
Ein schlaksiger Mann mit dicken Brillengläsern und einem wild wuchernden Bart schaute von einem Mikroskop hoch. »Warum dieses lange Gesicht?«, fragte er mit einem Akzent, der seine Bostoner Herkunft verriet.
»Heute findet im Dorf eine Beerdigung statt. Ich bin gerade dort gewesen und habe die Prozession gesehen.«
»Der kleine Junge?«
Elise Aguilar nickte.
»Es ist unendlich traurig. Rondi hat mir vor Kurzem erzählt, dass ein kranker Junge aus dem Dorf in der Klinik in Suchitoto läge. Ich hatte keine Ahnung, dass es so schlimm um ihn stand.«
Der Mann schaute zu einem halbwüchsigen einheimischen Jungen hinüber, der gerade Maisstängel aus einem Blecheimer zog und auf einem Tisch sortierte, und