Vorwort und Vorgeschichte
Die sprechende, die erzählte und die nichtssagende Stadt
Die Stadt ist, wie der Stamm, die Familie, die Kultgemeinschaft, eines der grundlegenden und die Zeiten überdauernden Ordnungsmuster der menschlichen Gesellschaft. Man trug den Namen der Stadt so gut wie den seines Heiligen und seiner Familie, hieß Cusanus, da Vinci, de Poitiers, von Gandersheim. Noch heute schätzt sich ein Mensch anders ein, je nachdem ob er ein Berliner, ein Münchner oder ein Stuttgarter ist. Zumindest gibt es noch heute Städte, die eine »gute Adresse«, und solche, die eine »schlechte« sind. In Wolfgang Braunfels’ Buch »Mittelalterliche Stadtbaukunst in der Toskana« (1953) erfährt man, dass in dieser frühen Epoche die Stadt wie ein Haus verstanden wurde, an dessen Errichtung alle Bürger mitarbeiteten, so wie Familienmitglieder heute bei einem Umzug anzupacken haben. »Die Vorstellung sah in ihr [der Stadt] zu jedem Zeitpunkt ein einheitlich errichtetes, hochaufragendes Bauwerk, in dessen planvoller Gestaltung sich ein hoher und ideeller Gedanke spiegelt.« Das Stadtgebilde war so kompakt, dass es, wie Siena, einem Heiligen in die Hand gegeben werden konnte. »Haec est civitas mea« – lautete die Unterschrift unter den Tafeln solcher Stadtheiligen. Noch auf den Stichen von Matthäus Merian nehmen sich Städte aus wie Dinge, die durch die Mauer definiert sind, wie die Nuss durch die Schale, der Mensch durch seine Haut. Bis in die jüngste Gegenwart reicht dieses Wissen von der Bedeutung der Stadt für die menschliche Existenz. »Zu den ältesten Ruhmestaten des Menschen gehört, dass er ein Stadtgründer ist. […] auf Münzen wird oft der Herrscher als solcher dargestellt. Dies also war gleich wichtig wie die Veranstaltung einer Feldschlacht.« (Wolf Jobst Siedler, »Die gemordete Stadt, Abgesang auf Putte und Straße, Platz und Baum«, 1964)
Keine Stadt von heute wäre noch einem Heiligen in die Hand zu legen, und nicht etwa deshalb, weil aus Gotteskindern Stadtkinder geworden sind. Der Fall der Stadtmauer bewirkte die Säkularisation der Stadt. Mit ihr verliert sie ihre dingliche wie ihre spirituelle Wesenheit. Sie kann nicht mehr als Haus, sie muss als soziales Gebilde beschrieben werden. Die Aufmerksamkeit richtet sich von der gebauten Stadt, die Symbol und Machtzentrum war, auf die Bewohner. Von nun an ist die Stadt die schönste, von der am meisten erzählt wird.
Diese Stadt ist Paris. Ein heftiger Kampf tobte um seine Mauern. Sie waren jedoch nicht etwa gegen bewaffnete Feinde zu verteidigen. Zuwanderer vielmehr, die sich in der Stadt Erlösung von ihrer Armut erhofften, sprengten sie. Die Mauern wurden immer weiter hinausgeschoben, es wurden neue errichtet, und endlich fielen sie ganz. Heute erinnern nur noch die Boulevards (der Begriff leitet sich von »Bollwerk« her) an diese Epoche, in der sich die Stadt als Haus zur Stadt ohne Tür und Tor verwandelte. Dieses Gebilde war nicht mehr mit einem Blick zu erfassen, sondern nur noch durch viele Worte zu beschreiben. Louis-Sébastien Mercier (1740 – 1819) schuf eine neue Gattung der Literatur, Notizen über das städtische Leben, vergleichbar dem Notebook des heutigen Ethnologen, die er 1781 als »Tableau de Paris« publizierte. Er entdeckte den Menschen als soziales Wesen und die Stadt als soziale Organisation. Die Ethnologie begann im Innern der Gesellschaft, auf dem Terrain der Stadt, wo sich Einwohner, Zuwanderer und Besucher zu einer bis dahin unbekannten Einheit vermischten, die es zu studieren galt. Von da an bis in die Mitte des 20. Jahrhunderts hinein wurde die Stadtbeschreibung ein wesentlicher Bestandteil des metropolitanen Selbstbewusstseins, auch in Deutschland, wo Literaten Städte wie München und Berlin nach dem französischen Vorbild darzustellen suchten. Die Stadt ohne Mauern wurde zur Stadt mit dem interessanten Straßenleben.
Mercier, der erste Memoirenschreiber der Stadt, erklärt es ausdrücklich zu seiner Absicht, gelebtes Leben der Nachwelt zu überliefern: »Ich werde von Paris reden, nicht von seinen Bauwerken, nicht von seinen Tempeln und Monumenten, seinen Sehenswürdigk