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Sechs Wochen vor der Tat
Auf Barbaras Nachttisch stand ein Foto von ihr und Markus am Gardasee. Beide strahlten, beziehungsweise Barbara strahlte, und Markus zeigte sein typisches schiefes, ein bisschen widerwilliges Grinsen, das er immer vor der Kamera aufsetzte, falls er sich überhaupt mal fotografieren ließ. Die Aufnahme war einundzwanzig Jahre alt, Barbara war damals noch nicht schwanger mit Leon oder wusste noch nicht, dass sie es war, und es war ein zauberhafter Tag gewesen, voller Liebe und Sonne (und vielleicht war Leon sogar hier entstanden, ganz genau ließ sich das nicht sagen).
Sie hatten sich ein paar Tage in einem Luxushotel in Sirmione geleistet, eine prächtige Villa in Sonnengelb und Cremeweiß, bewachsen mit einer leuchtend pinken Bougainvillea, die sich üppig neben dem säulenbewehrten Eingang hochrankte. Es hatte nur ein bisschen Krach gegeben, weil Markus trotz der vielgepriesenen Gourmetküche keinen einzigen Abend im Hotelrestaurant essen wollte. Seine Begründung – die Kellner taten ihm zu vornehm und zu servil, er fand das dekadent – überzeugte Barbara nicht, sie hätte sich gern einmal von vorne bis hinten bedienen lassen. Und was war gegen Silberbesteck, Stoffservietten und superfreundliche Bedienungen einzuwenden?
Aber das blieb die einzige Unstimmigkeit in diesem Kurzurlaub, ansonsten hatten sie eine fantastische Zeit, und manchmal sehnte sich Barbara so sehr danach zurück, also nicht unbedingt nach Sirmione selbst (ein hübscher, aber überfüllter Touri-Ort), aber an die Stimmung in diesem Hotel. An die Liebe und die Unbeschwertheit in der Zeit vor Leon.
Leon war ein Wunschkind gewesen, darankonnte es nicht gelegen haben. Er war sowillkommen im Leben von Barbara und Markus gewesen, er war die Krönung ihrer noch jungen zweiten Ehe, der Höhepunkt nach Jahren voller Enttäuschungen und Kummer, der Beweis, dass alle Kämpfe sich gelohnt hatten, und vielleicht hatte ihngerade das überfordert.
Diese freudigen Erwartungen, diese übertriebenen Hoffnungen. Welcher Säugling konnte die schon einlösen?
Nun war er jedenfalls da, unübersehbar, unüberhörbar, er wuchs und gedieh, und man musste mit ihm zurechtkommen, denn er würde nicht wieder verschwinden. Leon, Sternzeichen Löwe, ein kraftvoller und besonderer Mensch, mittlerweile ein junger Mann von außergewöhnlicher Intelligenz und mit extrem starken Gefühlen und Ängsten und – ja – auch Aggressionen. Begabt, aber schwierig. Wie so viele Genies passte er in keine Schublade, sprengte jedes Raster, war ein Naturereignis, lieb und böse, großartig und schlimm, hoffnungsvoll und verzweifelt, und manchmal alles zusammen, so wie an diesem Samstag Anfang Dezember.
Barbara hatte sich morgens ausgedacht, mittags zum vorzeitigen Nikolaus-Familienbrunch einzuladen, und war dann, ohne sich mit Markus abzustimmen, in aller Herrgottsfrühe losgefahren, um in einem Feinkostladen die entsprechenden Delikatessen einzukaufen. Das gab dann den ersten Ärger des Tages, weil Markus ein Pr