: Jasminka Huber
: Die Frau im Spiegel
: Vicon
: 9783952592137
: 1
: CHF 2.40
:
: Hauptwerk vor 1945
: German
Wir begleiteten Julia auf ihrem in Angriff genommenen Weg zur Selbstfindung an verschiedenen Orten und in oft unerwarteten Situationen, wobei das häufige Gespräch mit ihrem Gegenüber im Spiegel eine wichtige Rolle einnimmt. Jasminka Hubers Erstling ist rasant uns spannend geschrieben. Das erzählerische Talent der Autorin lässt die Szenen lebendig werden, und die Dialoge wirken echt. Man ist versucht, den Roman gleich ohne Pause bis zum Schluss zu verschlingen, ist doch die Geschichte so sehr aus dem Leben gegriffen, dass der Bezug zu eigenen Erfahrungen oder zumindest zu solchen in der näheren Bekanntschaft rasch klar wird. So kann das Lesen durchaus zur Auseinandersetzung mit eigenen schwierigen Lebenserfahrungen anstossen. Eine in jeder Beziehung durchaus empfehlenswerte Lektüre. Dr. med. Alois Geiger-Jakob
Julia packte ihren Koffer mit gemischten Gefühlen. Einerseits freute sie sich, dass ihr Mann endlich erkannt hatte, dass sie Ferien und eine Entspannungspause brauchte, andererseits wusste sie nicht, was sie eigentlich erwartete. Die Ferien in den letzten Jahren waren kaum erholsam gewesen, und es hatte sie immer öfter das Gefühl beschlichen, dass sie sich überhaupt nicht mehr entspannen konnte, egal wie schön die Hotelanlage oder das Rundumprogramm waren. Würde sie sich diesmal wirklich erholen? War das die Auszeit, von der der Arzt gesprochen hatte? Wie so oft verdrängte Julia all diese Zweifel und redete sich ein, dass dies ganz tolle Ferien werden würden. Sie hatte im Spital schon vor einiger Zeit für den August zwei Wochen Ferien eingegeben, auf die sie sich nun freute. Als sie mit Louise in Follonica aus dem Zug stieg, blies ihnen ein warmer Wind entgegen, der getränkt war mit dem Duft des nahen Meeres und den süssen Blüten des Jasmin- Strauches. Die Fahrt zum Hotel mit dem Taxi führte dem Strand entlang. Julia blickte auf das Meer, auf dessen Oberfläche sich gerade die Abendsonne verabschiedete, indem sie einen letzten rosaroten Gruss übers Wasser schickte. Vage erinnerte sie sich an ihren letzten Aufenthalt am Meer. Zwölf Jahre war es her, da hatte ihre Familie zusammen mit ihren Eltern zwei wundervolle Wochen am Strand von Pag, einer traumhaften Insel in Kroatien, verbracht. Tom lernte tauchen, Julia las im Liegestuhl Unmengen von Büchern und abends konnten Sebastian und sie lange Spaziergänge unter duftenden Pinienbäumen geniessen, während ihre Eltern mit Tom Uno spielten. Julia versuchte diese entspannte Atmosphäre wieder aufzurufen, jedoch erfolglos. Das Einzige, was sie spürte, war ein Gefühl der Leere. Vermutlich bin ich einfach zu erschöpft und brauche nur genügend Schlaf, sagte sie sich. An diesem Ort musste man wunderbar schlafen können, da war sich Julia sicher und Schlaf hatte sie bitter nötig. Ihr Schlafmangel machte sich bereits bei ihrer Arbeit bemerkbar. Sie hatte in letzter Zeit wichtige Termine vergessen, Unterlagen verlegt und war gereizter als sonst. Ausserdem plagten sie Nackenverspannungen, die ein gemütliches Sitzen fast verunmöglichten. Das Hotel lag auf einer kleinen Anhöhe und durch ihr Zimmerfenster konnte sie das Meer sehen. Ihr Zimmer war gemütlich eingerichtet und im Garten gab es romantische Sitzgelegenheiten inmitten blühendem Lavendel und intensiv duftender Seidenakazienbäume. Der Kopf sagte Julia, dass dies der richtige Ort sei, um runter zu fahren, aber irgendwie schien das noch nicht in ihrem Bauch angekommen zu sein. Der Druck, den sie seit einigen Wochen in der Bauchgegend spürte, war auch nach dem Anblick dieser betörenden Landschaft nicht verschwunden. In Julia machte sich das ihr bekannte Gefühl der inneren Leere bemerkbar. Nein, sagte sich Julia, ich lasse mir diese Ferien nicht vermiesen. Ich werde alles in vollen Zügen geniessen und mich wunderbar erholen. Wo ein Wille ist, ist auch ein Weg. Aber tief in ihrem Innern fühlte sie, dass dies gar nicht so leicht sein würde.