1. KAPITEL
„Sie arbeiten mit älteren Patienten. Ist das richtig, Miss Suarez?“
Seit fünf Minuten fühlte Isobel sich wie unter einem Mikroskop. Neil Kane brauchte ihr nur auf dem Korridor zu begegnen, und schon bekam sie Herzklopfen. Das lag nicht daran, dass er Ermittler des Generalstaatsanwalts von Massachusetts war. Nein, sie reagierte auf den Mann mit rotblondem Haar und grauen Schläfen, auf seine markantes Kinn und seine hochgewachsene, athletische Gestalt im dunkelgrauen Anzug. Er war so attraktiv, dass die meisten Frauen sich nach ihm umdrehten.
Genau das wollte Isobel nicht tun – schon gar nicht nach einem Mann, der ihren Kollegen im Krankenhaus ein Fehlverhalten nachweisen wollte. Der einen angeblichen Versicherungsbetrug aufzudecken versuchte. Hätte er damit Erfolg, wäre das der Niedergang des Walnut River General Hospitals, kurz „WRG“ genannt. Dann wäre die Übernahme durch den mächtigen Konzern Northeastern Health Care unabwendbar.
„Miss Suarez?“, wiederholte der Ermittler, und der forschende Blick aus den braunen Augen ging ihr unter die Haut.
Isobel wählte ihre Worte sorgfältig. „Ich bin Sozialarbeiterin, Mr. Kane. Ich kümmere mich um jeden Patienten, dessen Fall auf meinem Schreibtisch landet.“
Sie saßen allein in dem kleinen Besprechungsraum, den er als Büro nutzte. Vor Kane stand ein Laptop, daneben lag ein Notizblock.
Als der Ermittler sich zurücklehnte und sich den Nacken rieb, kam sein Knie ihrem sehr nahe. Sie zuckte nicht zurück.
„Hat eigentlich jeder in diesem Krankenhaus einen Kurs im Ausweichen gemacht?“, murmelte er.
Isobel sagte nichts. Mit fünfunddreißig wusste sie, wann Schweigen wirksamer war als jede Antwort.
Er seufzte laut, und sie vermutete, dass er einen ebenso langen Tag hinter sich hatte wie sie. Ihr war zu Ohren gekommen, dass er bereits morgens um halb acht Gespräche geführt hatte. Also war er seit elf Stunden hier.
„Miss Suarez, Sie haben mir erzählt, dass Sie seit zehn Jahren hier arbeiten.“ Er beugte sich vor. „Zu welcher Altersgruppe zählen die meisten Patienten, die Sie in diesem Zeitraum betreut haben?“
Sein Aftershave war holzig und sehr maskulin. „Darüber habe ich nicht Buch geführt.“
„Zum Glück gibt es Aufzeichnungen und Computerprogramme, die Ihnen diese Arbeit abnehmen.“ In seiner Stimme lag eine leichte Schärfe.
Auch Isobel war kurz davor, die Geduld zu verlieren. „Warum fragen Sie mich, wenn Sie die Antwort längst kennen?“ Sie strich sich das lockige, kinnlange kastanienbraune Haar hinters Ohr. „Wir sind hier, um die Patienten zu betreuen, nicht um sie auszunutzen. Ich weiß nicht, wonach Sie suchen. Es kursieren so viele Gerüchte, dass ich sie gar nicht zählen kann. Vielleicht ist jemandem ein Irrtum unterlaufen. Vielleicht hat es einen Computerfehler gegeben. Vielleicht gibt es gar keinen Schuldigen und keinen absichtlichen Betrug.“
Er musterte sie gründlich. „Was erwarten Sie denn von uns, Miss Suarez? Dass wir die Sache ignorieren? Dass wäre ein Freibrief für jeden Betrüger!“
Im Krankenhaus galt Neil Kane als Feind. Alle, vom Chefarzt bis zum Pförtner, hatten sich gegen ihn zusammengeschlossen und waren stolz auf ihre Arbeit. Für jeden hier stand der Patient an erster Stelle, für Northeastern Health Care war der Pr